Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Apostelgeschichte (15,36 - 18,22)

Apg 16,19-24

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

Wenn Sie diese Bibliographie zum ersten Mal nutzen, lesen Sie bitte die Hinweise zum Gebrauch.

Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Apg 16,19-24

 

 

Übersetzung

 

Apg 16,19-24:19 Als aber ihre Herren sahen, dass die Hoffnung auf ihren Gewinn ausgefahren war, ergriffen sie (den) Paulus und (den) Silas, schleppten sie auf den Marktplatz vor die Vorsteher, 20 führten sie den Stadtrichtern vor und sagten: "Diese Menschen bringen unsere Stadt in Aufruhr. Sie sind Juden, 21 und sie verkünden Sitten, die wir als Römer weder annehmen noch befolgen dürfen.“ 22 Da erhob sich auch die Menge gegen sie, und die Stadtrichter rissen ihnen die Oberkleider vom Leib und befahlen, (sie) sie mit Ruten zu schlagen. 23 Nachdem man ihnen viele Schläge versetzt hatte, warf man sie ins Gefängnis und wies den Gefängniswärter an, sie sicher zu verwahren. 24 Der warf sie auf diese Anweisung hin in das innere Gefängnis und sicherte ihre Füße im Block.

 

 

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V. 19

 

Beobachtungen: In 16,16-18 war berichtet worden, wie Paulus und die anderen Missionare auf dem Wege zu einer Gebetsstätte an einem Fluss von einer schreienden Sklavin mit einem Wahrsagegeist verfolgt worden waren. Durch das Wahrsagen hatte die Sklavin ihren "Herren“, also Besitzern, großen Gewinn beschert. Nach einigen Tagen hatte Paulus jedoch dem Wahrsagegeist geboten, aus der Sklavin auszufahren. Nach dem Ausfahren des Wahrsagegeistes konnte die Sklavin nicht mehr wahrsagen. Mit dem Wahrsagegeist war auch die Hoffnung der "Herren“ auf den Gewinn ausgefahren. Daher suchten sich die "Herren“ der Magd an Paulus zu rächen.

 

Der Marktplatz ("agora“) war in Griechenland im 1 Jh. n. Chr. weit mehr als nur ein Platz, auf dem Waren gekauft und verkauft wurden. Ausgrabungen in Philippi haben gezeigt, dass sich in Philippi an der Nordwestecke des Marktplatzes eine Tribüne befand, zu der an zwei Seiten Treppen hinaufführten. Hier dürfte der Platz der städtischen Beamten gewesen sein.

 

In V. 19 werden zunächst die "Archonten“ ("archontes“; "Vorsteher“, "Behörden“) genannt. Bei den "Archonten“ handelte es sich im alten Griechenland um das Gremium, dem die Angelegenheiten des Stadtstaates oblagen, zu denen auch die Kriegsführung und die Gerichtsbarkeit gehörten. Die "Archonten“ verloren jedoch im Laufe der Zeit ihre Befugnisse, so dass unklar ist, was zur Zeit der in der Apg berichteten Geschehnisse ihr Aufgabengebiet gewesen sein könnte. Die Unklarheit wird noch dadurch verstärkt, dass die Verwaltungsstruktur der römischen Kolonie Philippi nicht ohne weiteres mit den griechischen Städten zu vergleichen ist. Möglicherweise wollte der Verfasser nur ausdrücken, dass Paulus und Silas von den "Herren“ der Sklavin vor die Oberen der Stadt geschleppt wurden, ohne ein genaues Amt vor Augen zu haben.

 

Fraglich ist, warum neben Paulus auch Silas, nicht aber Timotheus zu dem Marktplatz geschleppt wurde. Dass sich die Wut gegen Paulus richtete, ist verständlich, weil Paulus im Namen Jesu Christi den Wahrsagegeist aus der Sklavin ausgetrieben hatte. Silas dagegen war ebenso wenig in besonderem Maße in Erscheinung getreten wie Timotheus und wurde dementsprechend in den V. 16-18 auch nicht namentlich genannt. Warum also die Wut gegen ihn?

Dass in V. 17 der erste Wir-Bericht endete, kann in Verbindung mit der auffälligen Tatsache, dass Timotheus nicht auf den Marktplatz geschleppt und bestraft wurde, als Hinweis darauf verstanden werden, dass Timotheus der Verfasser des Wir-Berichtes war. Was Timotheus zwischenzeitlich machte, wird nicht gesagt.

 

Weiterführende Literatur: Eine postkoloniale, postfeministische Auslegung von Apg 16,6-40 bietet J. L. Staley 2004, 177-192.

 

Eine Erörterung von Apg 16,11-40 bietet S. C. Agouridis 1984, 5-16.

 

M. Veillé 1979, 271-278 legt Apg 16,16-24 aus, wobei sie das Hauptaugenmerk auf Aspekte legt, die bei der Predigtvorbereitung von Belang sind.

 

J. Rius-Camps 1995, 35-39 befasst sich zunächst mit der Struktur des seiner Meinung nach aus zwei Teilen (16,11-15; 16,16-40) zusammengesetzten Abschnittes 16,11-40 und danach mit den verschiedenen Schwierigkeiten, denen sich Paulus und seine Begleiter ("wir“) in der rein heidnischen Gesellschaft Philippis ausgesetzt sahen.

 

M. Lods 1980, 287-293 untersucht, wie Lukas vom Kaufen und Verkaufen im Hinblick auf Magie und Wahrsagung spricht. Dabei geht er auf Apg 8,9-24; 16,16-19; 19,13-19 und 13,6-12 ein. Allen diesen Texten sei gemeinsam, dass die Gabe der Wahrsagung als eine Gabe erscheint, die sich bezahlt macht. Im Gegensatz dazu werde die frohe Botschaft unentgeltlich gewährt. Zu 16,16-19: Die Sklavin sei aufgrund ihrer Fähigkeit zur Wahrsagerei für ihre Besitzer eine finanziell lohnende Investition gewesen.

 

I. Richter Reimer 1992, 162-201 befasst sich mit der wahrsagenden Sklavin in Philippi. Eine Sklavin, die religiöse Protagonistin ist, sei für Philippi keine Ausnahme gewesen. Für Philippi sei die aktive Teilnahme von Sklav(inn)en und Freigelassenen am religiösen Leben auch inschriftlich belegt. So habe es Kultkollegien gegeben, die z.B. auch den beliebtesten altrömischen Sklavengott Silvanus verehrten und sich aus Gleichgestellten zusammensetzen konnten. Apg 16,16-24 zeichne jedoch ein anderes Bild. Die wahrsagende Sklavin sei von ihren Herren als Besitzstück und Werkzeug, das dem Lebensvollzug seines Besitzers dient, angesehen worden. Beim Austreibungsakt sei nicht von vornherein von einer "Befreiung“ der Sklavin zu sprechen. Da ihr die für die Herren gewinnbringende mantische Fähigkeit entzogen war, habe sie sicherlich für ihre Besitzer den wirtschaftlichen Reiz und damit auch ihre Hochachtung verloren. Es sei bekannt, dass Sklavinnen, die z. B. künstlerische Fähigkeiten besaßen, stets Gnade vor den Augen der Herren fanden; ihnen sei eine bessere Behandlung zugekommen als anderen auf diesen Gebieten nicht begabten Sklavinnen.

 

Laut F. Avemarie 2003, 550-576 enthülle sich der Sinn des Exorzismus erst, wenn man nach V. 18 weiterliest. Die Austreibung sei der Lackmusstreifen, der die Reaktionen derer offenbart, die das Evangelium ablehnen. Herren, für die die Wahrheit ein Geschäft ist und ihr Kriterium der Profit, könnten jene ganz andere Botschaft nur als Durchkreuzung ihrer Interessen und damit als Kampfansage an ihre staatsbürgerliche Identität wahrnehmen. Wer dagegen weiter sehe und mit der Erzählung den Missionaren in ihren nächtlichen Kerker folge, werde gezeigt bekommen, was sie eigentlich ist: Botschaft vom Heil, das allein der eine, wahre Herr gewährt.

 

Zu Magie und Heidentum in der Apg siehe H.-J. Klauck 1996, der sich auf S. 77-87 mit dem "Exorzismus“ in Philippi befasst.

 

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V. 20

 

Beobachtungen: Bei den "Strategen“ ("stratêgoi“) handelte es sich ursprünglich im alten Griechenland um Heerführer. In 16,20 sind aber mit Sicherheit keine Heerführer, sondern städtische Beamte im Blick, die sich mit der Rechtsprechung befassten. Im alten Rom wurden diese Beamten "Prätoren“ ("praetores“) genannt, in den römischen Kolonien war der Begriff "duoviri“ (vollständig: "duoviri iure dicundo“; in manchen Städten gemeinsam mit den Ädilen als "quattuorviri“ bezeichnet; "Stadtrichter“) üblich. Diesen beiden obersten Beamten hatten neben Aufgaben der Stadtleitung die Gerichtsbarkeit, die der Stadt vorbehalten war, inne.

Der Wortlaut lässt annehmen, dass es sich bei den "Vorstehern“ und "Stadtrichtern“ um verschiedene Personen und Ämter handelte und Paulus und Silas zunächst auf den Marktplatz vor die "Vorsteher“ geschleppt und dann − auch auf dem Marktplatz? − den "Stadtrichtern“ vorgeführt wurden. Vielleicht waren aber auch die "Vorsteher“ mit den "Stadtrichtern“ identisch. Dann wären Paulus und Silas zunächst auf den Marktplatz vor die Tribüne mit den "Vorstehern“ (= "Stadtrichter“) geschleppt worden und in einem zweiten Schritt dann diesen vorgeführt worden.

 

Die "Herren“ der Sklavin brachten gegen Paulus und Silas drei Anklagepunkte vor, die alle auf den ersten Blick religiöser Art waren, sich bei genauerem Hinsehen jedoch als eigennützige Verleumdung und fremdenfeindlich herausstellten.

Als erstes wurde Paulus und Silas vorgeworfen, sie würden "unsere Stadt“ in Aufruhr bringen. Tatsächlich hatte eher die schreiende Sklavin mit dem Wahrsagegeist in Philippi für Aufruhr gesorgt, was aber ihre "Herren“ verschwiegen, weil sie mit ihr gutes Geld verdienten. Paulus hatte durch das Austreiben des Wahrsagegeistes nur die "Herren“ der Magd, die sich einer bequemen Einnahmequelle beraubt sahen, in Aufruhr versetzt. Mit der falschen Darstellung der Tatsachen verband sich bei den "Herren“ der Sklavin Fremdenfeindlichkeit: Paulus und Silas wurden als "diese Menschen da“ "unserer Stadt“ gegenübergestellt.

Der zweite Vorwurf offenbarte die Fremdenfeindlichkeit, ja sogar Rassismus, noch deutlicher: "Sie sind Juden“, womit betont wurde, dass Judas und Silas anders als die "Herren“ der Sklavin, die "Stadtrichter“ und die Kolonisten Philippis keine Römer waren. Der wahre Sachverhalt, wonach Paulus und Silas − zumindest gemäß der Apg (vgl. 16,37) − durchaus römische Bürger waren, interessierte die Ankläger nicht.

 

Weiterführende Literatur: C. S. de Vos 1999, 51-63 geht der Frage nach, welches Vergehen Paulus und Silas vorgeworfen wurde. Gewöhnlich werde Störung der öffentlichen Ordnung und Einführung eines fremden Kultes angeführt, doch habe ersterer Vorwurf nur die Eigentümer der Sklavin berührt, nicht aber die Menge, und letzterer Vorwurf erscheine unangemessen angesichts der Tatsache, dass es kein Gesetz gab, das Römern den Übertritt zum Judentum oder die Ausübung eines fremden Kultes verbot. C. de Vos vermutet angesichts der Ungereimtheiten, dass die Vorwürfe auf die redaktionelle Hand des Lukas zurückgehen. Tatsächlich sei Paulus und Silas wohl Schadenzauber vorgeworfen worden. Da Lukas magische Praktiken jedoch auf teuflische Urheberschaft zurückführe und Christen als Gegner magischer Praktiken erscheinen lasse, könne er einen solchen Vorwurf nicht zulassen. Daher spiele er ihn herunter und führe stattdessen Anklagepunkte an, die sich von Paulus und Silas leicht widerlegen ließen.

D. R. Schwartz 1984, 357-363 vermutet, dass die "Herren“ der Sklavin keine Heiden gewesen seien, sondern Juden, und zwar Juden mit römischer Bürgerschaft. Er schlägt folgende Übersetzung der V. 20-21 vor: "These men are upsetting our city, although they are Jews, and are teaching practices which it is unlawful for us to accept or to do, being Romans.” Die “Herren” der Sklavin hätten demnach Paulus und Silas vorgeworfen, sie würden öffentlichen Aufruhr stiften, obwohl sie römische Bürger sind. Außerdem hätten sie angeführt, dass Paulus und Silas den Juden − und somit auch ihnen selbst − Praktiken gelehrt hätten, die sie als Römer weder annehmen noch befolgen dürfen.

 

Auf S. 187-267 bringt W. Stegemann 1991, 187-267 die Gefährdung der Christen durch den Verdacht von Staatsverbrechen zur Sprache, analysiert also die Konfliktebene lukanischer Christen mit der heidnischen Obrigkeit. Dabei solle anhand von vier in der Apg geschilderten Konflikten des Paulus und anderer Christen (vgl. 19,23-40; 16,19-40; 17,6-7; 18,12-17) die rechtliche bzw. politische Dimension dieser Konflikte im Verhältnis der Christen zur heidnischen Öffentlichkeit aufgezeigt und aus der besonderen historischen Situation von Christen unter dem Prinzipat Domitians erklärt werden. In einem Vergleich mit anderen christlichen Texten werde schließlich die Gefährdung der lukanischen Christen wieder historisch eingeordnet. Zu Apg 16,(11/)19-40: Die gegen Paulus und Silas erhobenen Vorwürfe stünden in einem bemerkenswerten Kontext. In der römischen Kolonie Philippi scheine man sich als Jude, wenn überhaupt, nur heimlich aufhalten zu können (wie die "Missionare“). Obwohl die christlichen Prediger offensichtlich schon einige Tage in Philippi gewesen seien, hätten sie dort nicht nur keinen Kontakt zu Juden aufgenommen, sondern hätten am Sabbat außerhalb des Stadttores an einem Fluss, wo sie eine Gebetsstätte vermuteten, Kontakt zu ihnen gesucht. Dort hätten sie nur Frauen getroffen, von denen die einzig identifizierte Person eine "Gottesfürchtige“ sei, die in Philippi ein "Haus“ führt. Lydia müsse den christlichen Predigern ihre Gastfreundschaft geradezu aufzwingen, weil diese sie offenkundig durch ihre Anwesenheit nicht hätten gefährden wollen. Durch eine Sklavin werde dann aber doch bekannt, dass Paulus und Silas jüdische Propagandisten sind, als welche sie schließlich dem Magistrat vorgeführt werden. Nach kurzer Haft müssten sie die Stadt verlassen.

 

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V. 21

 

Beobachtungen: Auch der dritte Anklagepunkt nahm es mit der Wahrheit nicht so genau und offenbarte ebenfalls Fremdenfeindlichkeit. So sprachen die Ankläger zwar von "Sitten“ ("ethê“), ließen jedoch gänzlich offen, welche Sitten sie meinten. Da die Ankläger Paulus und Silas für Juden hielten, ist davon auszugehen, dass sie jüdische Sitten meinten. Dass Judenchristen möglicherweise "Sitten“ haben könnten, die von denen der Juden abweichen, kam den Anklägern nicht in den Sinn. Überhaupt stellt sich die Frage, ob sie überhaupt wahrgenommen hatten, dass Paulus und Judas Judenchristen waren. Sofern dies der Fall war, dürften sie die beiden Missionare als Angehörige einer jüdischen Sekte eingeordnet haben.

Die Religion der Juden galt im Römischen Reich als "religio licita“, also als erlaubte Religion. Somit durften sie ihren religiösen Sitten nachgehen. Paulus und Silas gingen aber über die reine Religionsausübung hinaus, indem sie andere Menschen zu ihrer Religion zu bekehren suchten. Es ist unklar, ob dies zum Zeitpunkt der Geschehnisse an genau diesem Ort erlaubt war. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten drangen verstärkt orientalische Fremdkulte in das Römische Reich ein. Mag angesichts der vielfältigen fremden Einflüsse jüdische Mission in einem begrenzten Rahmen toleriert worden sein, so stellt sich die Frage, ob dies auch in der römischen Kolonie Philippi der Fall war. Möglicherweise war Philippi in besonderem Maße auf seine römische Identität und den Schutz der römischen Religiosität bedacht. Bei der Beantwortung der Frage, ob Römer jüdische Sitten annehmen durften, ist eine Vielzahl von Aspekten zu beachten: die grundsätzliche Toleranz gegenüber einer Vielzahl verschiedener Götter, die privilegierte Stellung des Judentums, die Abneigung der Heiden gegenüber dem von Juden (und Christen) vertretenen religiösen Ausschließlichkeitsanspruch, zeitlich und örtlich begrenzte besondere Begebenheiten, die Differenzierung zwischen den verschiedenen jüdischen Sitten.

 

Weiterführende Literatur: Im Kontext der Mission, die Ziel und Inhalt der Perikope Apg 16,11-40 darstelle, werde laut J. Hintermaier 2000, 152-176 deutlich gemacht, dass die Verkündigung des Evangeliums keine Grenzen kennt. Die für die Mission strategisch günstige Lage Philippis an der Römerstraße Via Egnatia, die Betonung der römischen Sitten, die Begegnung mit römischen Beamten und die Bekehrung des römischen Gefängnisaufsehers als zentrales Ereignis in dieser Perikope würden ein Licht auf den gesamten Aufbau und Plan der Apg, die den Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom darlege, werfen. Paulus sei das von Gott auserwählte Werkzeug zur Verkündigung des Evangeliums (vgl. 9,15) und diesen Paulus lasse er nicht im Gefängnis verschmachten. In Apg 16 werde aufgrund verschiedener Parallelen und Anspielungen gezeigt, dass die Basis für die paulinische Mission unter den Heiden schon im Lukasevangelium vorgezeichnet ist.

 

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V. 22

 

Beobachtungen: Die Reaktion der "Menge“, also vermutlich der bei der Anklage (auf dem Marktplatz?) anwesenden Einwohner Philippis, und der Stadtrichter erfolgte ohne jede Nachprüfung der Richtigkeit der Vorwürfe.

 

Der Codex Bezae Cantabrigiensis gestaltet die Szene noch lebendiger, indem er von einer "großen Menge“ spricht und außerdem hinzufügt, dass diese schrie. Das Schreien der Menge fehlt in dem vermutlich ursprünglichen, von den anderen Handschriften gebotenen Text, dürfte jedoch von diesen als Bestandteil der Erhebung der "Menge“ vorausgesetzt sein.

 

V. 22 setzt eine Kleidung voraus, die aus dem − hier nicht erwähnten - Unterkleid ("chitôn“) und dem Oberkleid ("himation“) besteht. Das Unterkleid wurde direkt auf dem Körper getragen und bestand nur aus einem großen, viereckigen Wolltuch (oder: Leinentuch), das an der linken Körperseite gefaltet wurde und geschlossen war, an der rechten Seite jedoch offen blieb und an der Schulter mit einer Heftnadel zusammengehalten wurde (dorische Form). Das Unterkleid konnte aber auch sackartig geschlossen (ionische Form) und hemdartig mit Ärmeln versehen sein. Oftmals wurde das Untergewand gegürtet getragen. Das Oberkleid wurde über dem Unterkleid getragen und bestand ebenfalls aus einem großen, viereckigen Wolltuch. Dieses wurde um den Körper geschlungen und auch drapiert, wobei ein Arm unbedeckt blieb. Es konnte auch mit einer Heftnadel auf einer Schulter befestigt werden.

Es stellen sich zwei Fragen: Die erste Frage ist, wessen Oberkleider vom Leib gerissen wurden. Das Personalpronomen "autôn“ ("ihre“) kann sich auf die Stadtrichter oder auf Paulus und Silas beziehen. Es ist davon auszugehen, dass ein Bezug auf Paulus und Silas vorliegt. Erstens bezog sich schon das erste "autôn“ des Verses auf Paulus und Silas, zweitens ist das Herunterreißen der Oberkleider als Vorbereitung der Schläge zu verstehen, die möglichst direkt auf die Haut erfolgen sollten, drittens ist nicht betont, dass es sich um die eigenen Oberkleider der Stadtrichter handelte. Die zweite Frage ist, ob Paulus und Silas nur die Oberkleider vom Leib gerissen wurde, wie der Text nahe legt, oder ob der Begriff "himation“ ("Oberkleid“) hier für das Ober- und Unterkleid zugleich steht. In ersterem Falle wären Paulus und Silas in Unterkleidern ausgepeitscht worden, sofern sie − wie üblich − unter dem Oberkleid ein Unterkleid trugen, in letzterem unbekleidet.

 

Statt des Imperfekts "ekeleuon“ wäre eigentlich eher ein Aorist zu erwarten gewesen, denn es handelte sich ja um einmaligen Befehl und nicht um ein fortdauerndes Befehlen. Möglicherweise hat es der Verfasser an dieser Stelle mit der Wahl der Zeitform nicht so genau genommen.

 

Das Verb "rhabdizein“ bedeutet hier vermutlich "mit dem Stock“ schlagen oder "mit Ruten schlagen“. Wahrscheinlich ist hier an die Prügelstrafe gedacht, bei der der Übertäter mit einem Rutenbündel geschlagen wurde. Rutenbündel (mit Beil) waren im Römischen Reich das Amtssymbol der höchsten Machthaber und wurden bei öffentlichen Auftritten von "Liktoren“ genannten Dienern vorangetragen. In 2 Kor 11,25 schreibt Paulus, er sei dreimal mit Ruten geschlagen worden. Einmal wird dies in Philippi geschehen sein (vgl. 1 Thess 2,2).

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 23

 

Beobachtungen: In V. 23 lassen die Verben der dritten Person Plural annehmen, dass weiterhin die Stadtrichter die Handelnden sind. Demnach hätten die Stadtrichter Paulus und Silas viele Schläge versetzt, sie ins Gefängnis geworfen und den Gefängniswärter angewiesen, sie sicher zu verwahren. Da die Stadtrichter die Prügelstrafe jedoch angeordnet hatten, können sie diese nicht selbst durchgeführt haben. Folglich scheiden sie als Subjekt in V. 23 aus und die dritte Person Plural ist nicht mit "sie…“, sondern unpersönlich mit "man“ zu übersetzen.

 

Das Substantiv "plêgê“ kann sowohl mit "Schlag“ oder "Hieb“ als auch mit "Wunde“ übersetzt werden. Dementsprechend kann die Übersetzung des Versbeginns entweder "Nachdem man ihnen viele Schläge versetzt hatte,…“ oder "Nachdem man ihnen viele Wunden zugefügt hatte,…“ lauten.

 

Weiterführende Literatur: Eine Analyse der Motive in 16,19-40, insbesondere des Erdbebens, bietet F. Martin 1990, 1-17. Er vertritt die These, dass die Jerusalemer Versammlung (vgl. Apg 15) auf eine schwelende Konfliktsituation eine Antwort gegeben habe, und nun in Apg 16 in Form eines Berichtes auf die Bedingungen und Wirkungen der freimütigen Evangeliumsverkündigung in einer heidnischen Gesellschaft eingegangen werde.

 

B. Rapske 1994, 115-134 vertritt die Ansicht, dass das Handeln der römischen Beamten in Anbetracht ihres lückenhaften Wissensstandes durchaus realistisch geschildert sei. Dabei stelle sich die Frage, warum Paulus erst nach seiner Misshandlung und Einkerkerung auf seinen Status als römischer Bürger hingewiesen hat (vgl. 16,37). B. Rapske legt dar, dass römische Bürgerschaft und jüdische Identität als miteinander unvereinbar angesehen worden seien. Hätte sich Paulus früher auf seine römische Bürgerschaft berufen, so wäre bezüglich der verkündigten Botschaft und der Kirche die Frage aufgekommen, ob sie römische Bürger privilegierten oder die römische Bürgerschaft voraussetzten. Dies hätte die im Entstehen begriffene Gemeinde Philippis gefährdet. Auf S. 243-281 kommt B. Rapske auf diejenigen Personen zu sprechen, mit denen Paulus bei seinen Gefangenschaften zu tun hatte, auf S. 313-367 auf das Leben in Gefangenschaft und auf S. 393-422 auf die göttlichen Helfer des gefangenen Paulus in Apg.

 

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V. 24

 

Beobachtungen: V. 24 macht deutlich, dass der Gefängniswärter der Anweisung sorgfältig folgte, indem er Paulus und Silas nicht nur ins Gefängnis, sondern sogar in den inneren Bereich des Gefängnisses warf. Hier konnte der Gefängniswärter sicher sein, dass Paulus und Silas die Flucht nicht gelingen würde.

Auch die Sicherung der Füße im Block diente der sicheren Verwahrung. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Holzblock ("xylon“ = "Holz“, "Block“), der genau genommen aus zwei Holzblöcken bestand, die übereinander gelegt und an einer Seite mit einem Scharnier und auf der anderen Seite mit einem Verschlussmechanismus versehen worden waren. Die Holzblöcke waren jeweils mit halbkreisförmigen Aussparungen versehen, die im verschlossenen Zustand genau übereinander lagen. So entstanden Löcher, die die Fußgelenke des Gefesselten umschlossen und die so klein waren, dass die Füße nicht hindurch gezogen werden konnten. Damit der Holzblock nicht umher bewegt werden konnte, dürfte er an der Wand befestigt gewesen sein.

 

Weiterführende Literatur: Im Rahmen seiner Analyse der Befreiungswunder analysiert J. Hintermaier 2000, 241-297 auch Apg 16,11-40.

 

J. Schäfer 2010, 199-222 gibt zunächst einen Forschungsüberblick zur Frage nach den Dionysosmysterien in der Apg und geht dann auf das Drama "Die Bakchen“ von Euripides ein, das eng mit Dionysos verbunden sei und zahlreiche Parallelen zur Apg aufweise. In einem dritten Schritt vergleicht J. Schäfer die Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apg textanalytisch mit dem Euripidesdrama und zeigt, dass die Deutlichkeit der lexikalischen, inhaltlich-kontextuellen und motivischen Parallelen je nach Erzählkontext variiere. Dem Verfasser der Apg, der sich selbst als antiker Historiker verstehe, dienten die Anspielungen auf die Dionysosmysterien als Hilfsmittel für die Darstellung des Glaubens an Jesus Christus in der hellenistisch geprägten Kultur. Den antiken Lesern würden Assoziations-, Identifikations- und Anknüpfungsmöglichkeiten für den neuen Christusglauben geboten. Zu 16,23-40: Auch in den "Bakchen“ werde die gute Bewachung der Bacchantinnen betont, die ebenfalls an den Füßen gefesselt seien. In beiden Texten spiele das Motiv der Dunkelheit eine große Rolle. Zum anderen könne das hymnische Singen der Dionysos-Anhängerinnen mit dem hymnischen Singen von Paulus und Silas verglichen werden. Weitere sehr deutliche intertextuelle Bezüge auf die "Bakchen“ weise die Beschreibung des Befreiungswunders (V. 26) selbst auf.

 

 

Literaturübersicht

 

Agouridis, Savas C.; Hê apelasê tou Paulou kai tôn synodôn tou apo tous Philippous (Prax. 16,11.40), DBM NS 3 (1984), 5-16

Avemarie, Friedrich; Warum treibt Paulus einen Dämon aus, der die Wahrheit sagt? Geschichte und Bedeutung des Exorzismus zu Philippi (Act 16,16-18), in: A. Lange u. a. [Hrsg.], Die Dämonen − Demons: die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt,, Tübingen 2003, 550-576

de Vos, Craig S.; Finding a Charge That Fits: The Accusation against Paul and Silas at Philippi (Acts 16.19-21), JSNT 74 (1999), 51-63

Hintermaier, Johann; Die Befreiungswunder in der Apostelgeschichte: motiv- und formkritische Aspekte sowie literarische Funktion der wunderbaren Befreiungen in Apg 5,17-42; 12,1-23; 16,11-40, Rom 2000

Hintermaier, Johann; Grundlage und Entwicklung der paulinischen Mission am Beispiel von Apg 16,11-40, SNTU 25 (2000), 152-176

Klauck, Hans-Josef; Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas (SBS 167), Stuttgart 1996

Lods, Marc; Argent et magie dans le livre des Actes, PosLuth 28/4 (1980), 287-293

Martin, François; Le geôlier et la marchande de pourpre: Actes des Apôtres 16:6-40 (Seconde partie), SémBib 60 (1990), 1-17

Rapske, Brian; The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in Its First Century Setting 3), Grand Rapids, Michigan - Carlisle 1994

Richter Reimer, Ivoni; Frauen in der Apostelgeschichte des Lukas: eine feministisch- theologische Exegese, Gütersloh 1992

Rius-Camps, Josep; Pablo y el grupo «nosotros» en Filipos: dos proyectos de evangelización en conflicto (Hch 16,11-40), Laurentianum 36/1-2 (1995), 35-59

Schäfer, Jan; Zur Funktion der Dionysosmysterien in der Apostelgeschichte. Eine intertextuelle Betrachtung der Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apostelgeschichte und der Bakchen des Euripides, ThZ 66/3 (2010), 199-222

Schwartz, Daniel R.; The Accusation and the Accusers at Philippi (Acts 16,20-21), Bib. 65/3 (1984), 357-363

Staley, Jeffrey L.; Changing Woman: Toward a Postcolonial Postfeminist Interpretation of Acts 16.6-40, in: A.-J. Levine [ed.], A Feminist Companion to the Acts of the Apostles (Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings 9), London − New York 2004, 177-192

Stegemann, Wolfgang; Zwischen Synagoge und Obrigkeit: Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FRLANT 152), Göttingen 1991

Veillé, Monique, Actes 16,16-24, ETR 54 (1979), 271-278

 

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