Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Apostelgeschichte (Apg 21,18-26,32)

Apg 22,1-5

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

Wenn Sie diese Bibliographie zum ersten Mal nutzen, lesen Sie bitte die Hinweise zum Gebrauch.

Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Apg 22,1-5

 

 

Übersetzung

 

Apg 22,1-5:1 "Ihr Männer, Brüder und Väter, hört jetzt meine Verteidigung vor euch!“ 2 Als sie aber hörten, dass er in hebräischer Sprache zu ihnen redete, wurden sie noch stiller. Und er sprach: 3 "Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Kilikien, doch aufgewachsen in dieser Stadt, zu den Füßen des Gamaliel aufs Genaueste im väterlichen Gesetz unterwiesen. Ich war ein Eiferer für (den) Gott, wie ihr alle es heute [noch] seid. 4 Ich habe diesen Weg bis auf [den] Tod verfolgt, indem ich Männer und Frauen fesselte und in Gefängnisse einlieferte, 5 wie mir auch der Hohepriester und der ganze Ältestenrat bestätigen kann. Von ihnen habe ich sogar Briefe an die Brüder erhalten und bin nach Damaskus gereist, um auch die, die sich dort aufhielten, gefesselt nach Jerusalem zu führen, damit sie bestraft würden.“

 

 

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V. 1

 

Beobachtungen: Das Substantiv "anêr“ bedeutet gewöhnlich "Mann“. Die Anrede "andres, adelphoi kai pateres“ ist wörtlich mit "Ihr Männer, Brüder und Väter,…“ zu übersetzen. Dann wären alle Zuhörer Männer gewesen. Nun kann "anêr“ aber auch abweichend "Mensch“ bedeuten. Dann würde die Übersetzung "Ihr Menschen, Brüder und Väter,…“ (oder kurz: "Ihr Brüder und Väter…“) lauten. Da sowohl "Brüder“ als auch "Väter“ streng genommen Begriffe sind, die nur Männer einschließen, liegt es nahe, von einer rein männlichen Zuhörerschaft auszugehen. Doch sollten sich in der aufgebrachten Menge tatsächlich keine Frauen befunden haben? Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Frauen von der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt, verschwiegen wurden. Dann wären mit "Männer“, "Brüder“ und "Väter“ auch Frauen gemeint gewesen.

 

"Brüder“ meint hier nicht "leibliche Brüder“ und auch nicht "Glaubensbrüder“, sondern "Volksgenossen“. Der Begriff macht deutlich, dass sich Paulus seinen Volksgenossen, den Juden, trotz der Anfeindungen weiterhin zugehörig fühlte.

 

Fraglich ist, wie die Anrede "Väter“ zu deuten ist. Besagt die Anrede, dass sich auch ältere Juden unter den Zuhörern befanden? Oder macht die Anrede eine besondere Ehrerbietung deutlich? An eine besondere Ehrerbietung ist zu denken, weil in 7,2 die Mitglieder des Hohen Rats (Synhedriums/Synedrions) ebenfalls als "Männer, Brüder und Väter“ angeredet werden.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 2

 

Beobachtungen: Statt des Imperfekts "prosephônei“ ("er redete zu“) bieten zwei Varianten de Aorist "prosephônêsen“ ("er redete an“) bzw. das Präsens "prosphônei“ ("er redet an/zu“). Der Aorist lässt sich als Anpassung an 21,40 verstehen, wo sich ebenfalls "prosephônêsen“ findet. Der Aorist betont die Kürze der Rede, die also als Anreden zu verstehen ist. Auf die kurze Anrede wäre demnach die längere eigentliche Rede gefolgt. Das Präsens dagegen lässt die Anrede oder Rede als besonders lebhaft erscheinen. Es lässt den Leser aufhorchen, muss jedoch nicht als Präsens ("er redet an/zu“). übersetzt werden, sondern es ist auch die Übersetzung als Präteritum ("er redete an/zu“) möglich. Vielleicht orientiert sich die Variante an 21,37, wo ebenfalls eine präsentische Verbform erscheint.

 

Paulus redete zu seinen Volksgenossen nicht in griechischer, sondern in hebräischer Sprache. Dies dürfte damit zu erklären sein, dass seine Zuhörer nun nicht ausländische Besatzer, sondern seine Volksgenossen waren. Mag die Sprache der Diasporajuden auch Griechisch gewesen sein, so war die Sprache der Juden in Palästina und Jerusalem wohl Hebräisch, die Sprache des alten Israel und auch des AT (= hebräische Bibel). Allerdings stellt sich die Frage, ob die hebräische Sprache tatsächlich noch zur Zeit des Paulus in Palästina und Jerusalem verbreitet war, denn seit der Zeit der Besetzung des Landes durch die Perser hatte die aramäische Sprache die hebräische Sprache immer weiter verdrängt. Ist nun V. 40 ein Beleg dafür, dass die hebräische Sprache weiterhin in Palästina und Jerusalem gesprochen oder zumindest verstanden wurde? Oder ist "hebräische Sprache“ hier im Sinne von "aramäische Sprache“ zu verstehen, was angesichts der Ähnlichkeit beider Sprachen möglich ist? Oder liegt hier Unwissenheit des Verfassers der Apg bezüglich der wahren Sprachverhältnisse vor?

 

Die aufgebrachte Menge war auf ein Handzeichen des Paulus hin still und zur Zuhörerschaft geworden (vgl. 21,40). Dadurch, dass Paulus zu ihnen in hebräischer Sprache redete, fühlte sie sich vermutlich besonders angesprochen, weil es wohl auch ihre eigene Sprache war. Damit redete nicht ein Angehöriger der fremden Besatzungsmacht oder eine andere aus der Fremde stammende Person zu ihr, sondern jemand von ihresgleichen, ein Jude. Die gesteigerte Stille mag auch mit Erstaunen zu erklären sein. Möglicherweise war die still gewordene Menge überrascht, Paulus in hebräischer Sprache zu ihnen reden zu hören, weil sie ihn mit den Griechen in Verbindung gebracht hatten, die er angeblich in den Tempel geführt hatte (vgl. 21,28-29).

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 3

 

Beobachtungen: Hatte Paulus gegenüber dem Tribun der Kohorte noch seine Herkunft aus der hellenistischen Metropole Tarsus in Kilikien (Landschaft im Süden der heutigen Türkei) herausgestellt (vgl. 21,37-40), erwähnte er sie gegenüber den jüdischen Zuhörern nur kurz. Das dürfte damit zu begründen sein, dass er die jüdischen Zuhörer mit einer solchen Herkunft nicht beeindrucken konnte, weil deren Lebenswelt jüdisch, nicht aber griechisch oder römisch war.

 

Mit "dieser Stadt“ kann die zuvor erwähnte Stadt Tarsus gemeint sein oder die Stadt, in der Paulus zu seinen Zuhörern redete, nämlich Jerusalem. Welche der beiden Städte tatsächlich gemeint ist, hängt von der Frage ab, inwieweit man das Partizip "anatethrammenos“ ("aufgewachsen“) nicht nur im Sinne von "groß geworden“ oder "erzogen“, sondern auch im Sinne von "unterrichtet/unterwiesen“ versteht. Seine Kindheit kann Paulus durchaus in Tarsus verbracht haben, wo er folglich erzogen worden wäre. Sobald man jedoch die Kindheit oder Jugend des Paulus mit seiner Unterweisung im Gesetz durch den Gesetzeslehrer (= Rabbi) Gamaliel in Verbindung bringt, kann mit "dieser Stadt“ nur Jerusalem gemeint sein, denn es ist nicht bekannt, dass Gamaliel in Tarsus gewirkt hat. Gamaliels Wirkungsort war in erster Linie Jerusalem. Dass Paulus tatsächlich in Jerusalem groß geworden ist und dort seine Jugend oder sogar auch seine Kindheit verbracht hat, legen auch 7,58 und 23,16 nahe. Gemäß 7,58 hatte sich Paulus als junger Mann zur Zeit der Steinigung des Stephanus schon in Jerusalem aufgehalten und gemäß 26,4 hat Paulus von Jugend an unter den Juden in Jerusalem gelebt. Und 23,16 lässt annehmen, dass auch der Sohn der Schwester des Paulus, also sein Neffe, in Jerusalem lebte, was auf eine gewisse Verankerung der Familie in Jerusalem schließen lässt. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob auch die Eltern des Paulus nach Jerusalem gezogen sind, was sich nicht erschließen lässt.

 

Schon die Formulierung "zu Füßen von“ macht das Schüler-Lehrer-Verhältnis deutlich: Der Lehrende ist erhöht, der Lernende zu seinen Füßen, also unten. Der Lernende ist dem Lehrenden untergeordnet, weil er von diesem das Wissen erhält. Möglicherweise liegt der Formulierung die Tatsache zugrunde, dass die Rabbinen bei der Lehre standen oder erhöht saßen, die Schüler dagegen in Bodennähe oder auf dem Boden saßen.

 

Fraglich ist, ob "zu den Füßen des Gamaliel“ zu "aufgewachsen in dieser Stadt“ oder zu "aufs Genaueste im väterlichen Gesetz unterwiesen“ gehört. In ersterem Fall würde die Übersetzung "aufgewachsen in dieser Stadt zu den Füßen des Gamaliel, aufs Genaueste im väterlichen Gesetz unterwiesen“ lauten, in letzterem Fall "aufgewachsen in dieser Stadt, zu den Füßen des Gamaliel aufs Genaueste im väterlichen Gesetz unterwiesen“. Die Tatsache, dass Gamaliel ein Gesetzeslehrer war, dem speziell die Unterweisung im "väterlichen Gesetz“ − gemeint ist die Tora − zukam, ist letztere Zuordnungs- und Übersetzungsmöglichkeit wahrscheinlicher.

"Väterlich“ dürfte sich hier auf die "Väter“, also auf die Vorfahren des gegenwärtigen Geschlechts des Volkes Israel, beziehen. Auch die "Väter“ hatten das "Gesetz“ bereits befolgt. "Väterlich“ war das "Gesetz“ vielleicht auch deshalb, weil es zur Zeit der Erzväter dem Volk Israel von Gott zuteil geworden war.

 

Gamaliel gehörte der "Partei“ (Schule) der Pharisäer an. Die Formulierung "kata akribeian“ ("aufs Genaueste“) weist darauf hin, dass Gamaliel aufs Genaueste den Sinn der Texte der Tora (= "väterliches Gesetz“) herauszufinden suchte und dieses Betreben auch bei der Unterweisung seiner Schüler vermittelte (zur gewissenhaften Toraauslegung der Pharisäer vgl. Ios. Bell. 2,162). Die Formulierung besagt aber nicht unbedingt, dass Gamaliel die Texte mit ihren Satzungen und Geboten besonders streng auslegte und er und seine Schüler die Satzungen und Gebote peinlich genau befolgte.

 

Bei dem Partizip "hyparchôn“ ("vorhanden seiend“, "seiend“) handelt es sich zwar um ein Präsens, doch gibt dieses nicht die Zeitstufe, also die Gegenwart, an, sondern die Gleichzeitigkeit. Die Gleichzeitigkeit dürfte auf die genaue Unterweisung im väterlichen Gesetz beziehen. Da das vorausgehende Perfekt nicht die Unterweisung an sich, sondern das Ergebnis der Unterweisung, die genaue Kenntnis des väterlichen Gesetzes, betont, dürfte sich auch das Partizip Präsens "hyparchôn“ auf das Ergebnis der Unterweisung beziehen. Ausgesagt ist demnach, dass Paulus infolge der genauen Gesetzesunterweisung ein Eiferer für Gott war.

Für diese Deutung spricht auch das Adverb "sêmeron“ ("heute“). Paulus vergleicht also seinen damaligen Gotteseifer mit demjenigen der jüdischen Zuhörer zum Zeitpunkt der Verteidigungsrede. Dieser Gotteseifer ist als ein jüdischer Gotteseifer zu verstehen, der Jesus nicht als Christus (= Messias) anerkennt. Fehlte diesem Gotteseifer zwar aus Sicht des Paulus das Entscheidende, ließ Paulus dies zu Beginn seiner Rede nicht erkennen. Paulus wertete des Gotteseifer der Juden nicht ab, sondern schilderte sachlich aus autobiographischer Sicht dessen Wesen

 

Weiterführende Literatur: B. Rapske 1994, 71-112 befasst sich mit den verschiedenen Facetten der Bürgerschaft und des Status' des Paulus: Paulus als Bürger von Tarsus, als römischer Bürger und als Jude.

 

Zur Unterweisung des Paulus im "väterlichen Gesetz“ und zur Christenverfolgung des Paulus siehe S. Légasse 1995, 373-390.

 

D. Marguerat 1995, 127-155 geht den Fragen "Warum drei Berichte von Paulus' Bekehrung (Apg 9; 22; 26) und warum solch große Unterschiede zwischen den Berichten?“ unter erzählkritischen Gesichtspunkten nach. Fazit: Der Bericht variiere, je nachdem, wer berichtet − der Erzähler oder Paulus − und welches die Aussageabsicht ist. Wichtig sei auch die Frage nach der Funktion innerhalb der Gesamtkomposition der Apg. Apg 9,1-30 stelle Saulus' (= Paulus') Bekehrung als machtvolles Werk Christi dar. Apg 22 stelle das Judesein des Paulus heraus und Apg 26 mache deutlich, wie die Bekehrung unter den Heiden legitimiert wird.

Auch B. R. Gaventa 1986, 52-95 geht davon aus, dass die Unterschiede zwischen den drei Bekehrungsberichten mit den verschiedenen narrativen Kontexten zu erklären seien. Grundlage sei jedoch ein und dieselbe Tradition. Apg 9 stelle Paulus als Feind der Kirche, der Christ werde, dar. In Apg 22 stelle sich Paulus nach seiner Festnahme in einer ersten Verteidigungsrede als loyaler Jude dar, der vom "Gott der Väter“ aufgefordert worden sei, allen Völkern Zeugnis abzulegen. In der letzten Verteidigungsrede Apg 26 schließlich stelle sich Paulus als Opfer innerjüdischer Auseinandersetzungen dar.

 

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V. 4

 

Beobachtungen: Es ist unklar, von welchem Weg Paulus sprach. Da seine Rede auf dem Hintergrund des Konfliktes der Juden mit den Christen zu verstehen ist, dürfte mit "diesem Weg“ das Christentum gemeint sein. Die fehlende Erklärung der Formulierung weist darauf hin, dass Paulus bzw. der Verfasser der Apg davon ausgehen konnte, dass die Zuhörer bzw. Leser der Apg die Formulierung auch ohne Erklärung verstanden, da es sich um eine allgemein gängige, geprägte Formulierung handelte. Vielleicht ist von einer Selbstbezeichnung der Christen auszugehen. Ähnliche Selbstbezeichnungen begegnen auch bei den Essern in Qumran (vgl. 1QS 9,17-18; 10,20-21; CD 1,13; 2,6). Vermutlich liegt der Bezeichnung "Weg“ die Vorstellung eines Weges zugrunde, der von Heil geprägt ist und − zumindest nach christlichem Verständnis − zum ewigen Leben führt.

 

Es ist fraglich, ob Paulus selbst Männer und Frauen "dieses Wegs“ fesselte und in Gefängnisse einlieferte, oder ob er Männer und Frauen "dieses Wegs“ fesseln und in Gefängnisse einliefern ließ. Die aktive Verbform lässt ersteres vermuten, doch ist eher unwahrscheinlich, dass Paulus tatsächlich selbst die Fesselungen und Einlieferungen vornahm. Eher ist anzunehmen, dass er Hand in Hand mit anderen "Gotteseiferern“ handelte.

 

Die Übersetzung "bis auf [den] Tod“ ist der Übersetzung "bis zu[m] Tod“ vorzuziehen, denn "bis zum Tod“ könnte auch im Sinne von "bis zum Lebensende“ gedeutet werden. Es ist aber nicht ausgesagt, dass Paulus bis zu seinem Lebensende die Anhänger "dieses Wegs“ verfolgte, sondern es geht darum, dass er sie aufs Äußerste ("bis aufs Blut“) verfolgte. Der Tod drückte dieses Äußerste aus, weil die Verfolgung im Extremfall zum Tod der Verfolgten führen konnte. Dass bei der Verfolgung tatsächlich Menschen zu Tode gekommen sind, ist jedoch nicht unbedingt ausgesagt. So ist in der Apg auch nur ein einziger Todesfall überliefert, mit dem der Christenverfolger Paulus in Verbindung gebracht wird: die Steinigung des Stephanus (vgl. 7,54-8,1).

 

Weiterführende Literatur: S. Lyonnet 1981, 149-164 befasst sich mit der Frage, in welchem Maße der Begriff "Weg“ in 9,2; 22,4 mit Jesus, den Paulus verfolgte, verbunden ist. Er stellt drei Aspekte des Begriffs heraus: a) Verhaltensweise; b) der Weg des "Herrn“ im atl. Sinn, also das Verhalten des "Herrn“ bei der Führung und beim Schutz seines Volkes sowie die göttliche Lebensführung als Muster für diejenige des nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen; c) der Weg des "Herrn“ im ntl. Sinn, den der Gottvater in Jesus beschreite und den − parallel dazu − Jesus im Christen beschreite, so deutlich vom Weg des Pharisäers verschieden. Die christliche Lebensweise verfolgen bedeute Jesus selbst verfolgen.

 

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V. 5

 

Beobachtungen: Nicht Paulus bedurfte der Bestätigung, sondern die kritische Zuhörerschaft. Gemeint ist, dass der Hohepriester und der ganze Ältestenrat Paulus zur Seite treten und vor den Zuhörern die Richtigkeit der Aussagen bestätigen könnten. Keine Berücksichtigung findet die Tatsache, dass sich die Zusammensetzung des Ältestenrates zwischenzeitlich geändert haben kann, die gegenwärtigen Ältesten also nicht unbedingt diejenigen waren, die ihm damals die Briefe ausgehändigt hatten. Gemäß der Apg war mit großer Wahrscheinlichkeit der Hohepriester ein anderer: In der Zeit der Kreuzigung Jesu und in der Zeit der Entstehung der ersten Gemeinden war Kaiphas (= Kajaphas) Hohepriester, der auch in Apg 4,6 auftaucht (hier wird fälschlicherweise sein Schwiegervater Hannas als Hohepriester genannt, der aber wohl nicht mehr selbst Hohepriester war, allerdings weiterhin großen Einfluss ausübte); gemäß 23,2; 24,1 stand dagegen Paulus eine Rechtfertigung nicht vor Kaiphas, sondern vor Hananias bevor.

 

"Von diesen“ ("par' hôn“) bezieht sich auf jeden Fall auf eine Mehrzahl Personen, wobei unklar ist, ob es sich nur um die Angehörigen des Ältestenrats handelte, oder ob auch der Hohepriester eingeschlossen ist. Apg 9,1 lässt letzteres vermuten, wobei dieser Vers davon ausgeht, dass Paulus die Briefe nur vom Hohenpriester erbeten hatte. Der Ältestenrat kommt dort nicht in den Blick.

Offen bleibt, was der Inhalt der Briefe war. Es kann sich bei den "Briefen“ um schriftliche Bevollmächtigungen gehandelt haben, die geplanten Verfolgungsaktionen durchzuführen. Möglich ist aber auch, dass die "Briefe“ Empfehlungsschreiben waren, in denen die Juden in Damaskus aufgefordert wurden, Saulus die geplanten Verfolgungsaktionen zu erlauben. In ersterem Fall wären der Hohepriester und der Ältestenrat zur Erlaubnis solcher Aktionen bevollmächtigt gewesen, in letzterem die Juden in Damaskus, also vor Ort der geplanten Verfolgung.

 

V. 5 lässt offen, um was für Briefe es sich handelte und was deren Inhalt war. Aufgrund der Mehrdeutigkeit des Begriffs "Brüder“ bleibt auf den ersten Blick auch unklar, wer die Empfänger der Briefe waren. Dass mit der Bezeichung "Brüder“ leibliche Brüder des Paulus gemeint waren, ist unwahrscheinlich, denn dann hätte er von "meinen Brüdern“ gesprochen. Liest man die Bezeichnung "Brüder“ im Lichte von V. 1, dann sind Volksgenossen, also Juden, gemeint. Allerdings ist "Brüder“ auch eine gängige Bezeichnung für Glaubensgenossen. Da Paulus zum Zeitpunkt seiner Verteidigungsrede bereits Christ war, könnten daher mit der Bezeichnung "Brüder“ auch Christen gemeint sein. Allerdings ist bei der gesamten Rede davon auszugehen, dass Paulus − V. 1 entsprechend − seine Wortwahl auf die jüdische Zuhörerschaft ausrichtete. In den Augen der Zuhörer waren "Brüder“ ihre eigenen Volks- und Glaubensgenossen, also Juden. Daher dürften auch in V. 5 mit der Bezeichnung "Brüder“ Juden gemeint sein. Diese Schlussfolgerung wird durch 9,1 gestützt, wonach Paulus Briefe nach Damaskus an die Synagogen erbeten hatte. Die Synagogen waren Versammlungsräume der jüdischen Gemeinschaften, wobei der Begriff zugleich für die jüdischen Gemeinschaften an sich stehen konnte.

 

Damaskus ist eine bedeutende Handelsstadt im heutigen Syrien, die seit der Eroberung durch Pompeius 64 v. Chr. zum Römischen Reich gehört, und zwar zur kaiserlichen Provinz Syrien (Syria). Als Bestandteil der Dekapolis − ein Bund von etwa zehn (die Zahl schwankte im Laufe der Geschichte geringfügig) griechisch geprägten Städten vorwiegend im mittleren und nördlichen Ostjordanland − genießt Damaskus Sonderrechte und eine weit gehende Unabhängigkeit. In Damaskus gibt es zur Zeit des Paulus einen starken jüdischen Bevölkerungsanteil (vgl. Ios. Bell. 2,561; 7,368) und eine starke nabatäische Handelskolonie. In irgendeiner Form scheinen die Nabatäer auch politische Macht auszuüben, denn in 2 Kor 11,32 ist von einem in Damaskus ansässigen Ethnarchen die Rede, der wohl kaum ein selbstständiger Herrscher, sondern dem von 9 v. Chr. bis um 40 n. Chr. in Petra regierenden König Aretas IV. Philodemos unterstellt ist.

 

Das Adverb "ekeise“ kann "dort“ oder "dorthin“ bedeuten. Vermutlich schwingen hier beide Bedeutungen mit, denn zum einen befanden sich die zu fesselnden Christen bereits in Damaskus, zum anderen waren sie möglicherweise aus irgendeinem Grund dorthin verschlagen worden. Da Damaskus eine Handelsstadt war, ist möglich, dass das Christentum durch Händler nach Damaskus gebracht worden war. Vielleicht hatten sich christliche Händler dort niedergelassen. Auch ist möglich, dass Christen dorthin geflohen waren. Über die Entstehung einer Gemeinde in Damaskus erfahren wir in der Apg nichts. Merkwürdigerweise schweigt sich Apg 1-8 jedoch über eine solch weite Verbreitung der Christen aus. Es ist in 8,1 nur von ihrer verfolgungsbedingten Zerstreuung über Judäa und Samarien die Rede. Und in 8,14 heißt es, dass Samarien das "Wort Gottes“ angenommen hat. Die fehlende Auskunft über das Entstehen der christlichen Gemeinschaft in Damaskus beweist, dass der Verfasser der Apg keine lückenlose Geschichte des Urchristentums bietet, sondern nur wesentliche Ereignisse erzählt. Fraglich ist, ob zwischen Christen, die bereits in Damaskus lebten, und dorthin zugezogenen oder geflohenen Christen zu unterscheiden ist, und ob Paulus nur die dorthin zugezogenen oder geflohenen Christen zu verfolgen suchte.

Neben der Zahl der Christen in Damaskus ist auch unklar, inwieweit die Christen dort in einer oder mehreren Gemeinden organisiert waren und inwieweit Paulus von einer gemeindlichen Organisation ausging. Somit lässt sich auch nicht sagen, ob an eine systematische Verfolgungsaktion gedacht war oder eher an eine Verfolgung von zufälligem, nur einzelne Christen betreffendem Charakter. Überhaupt benötigte Paulus vor Ort Informationen darüber, wer dem "Weg“ anhängt. Als Informantinnen kamen am ehesten die Synagogen in Frage, denn es ist davon auszugehen, dass sich mindestens ein Teil der Anhänger des "Wegs“ aus den Juden rekrutiert hatte.

 

Es bleibt offen, von wem die gefesselt nach Jerusalem Geführten bestraft werden sollten. Von dem Hohenpriester oder/und von den Ältesten? Oder von anderen Personen bzw. einer anderen Institution?

 

Weiterführende Literatur: C. S. Mann 1988, 331-334 geht der Frage nach, wie viel Lukas über die Lage der christlichen Gemeinde in Jerusalem wusste. Dabei geht er vom lukanischen Bericht von Saulus' Reise nach Damaskus und seinen Gründen für diese Reise aus und zieht für seine Antwort Apg 22,4-5 heran. C. S. Mann geht davon aus, dass Saulus mit Billigung der jüdischen Autoritäten in Jerusalem reiste, er vermutlich sogar von diesen gesandt war. Doch warum reiste er ausgerechnet nach Damaskus? C. S. Mann geht nicht davon aus, dass Damaskus als eine intellektuelle Hochburg wie Alexandria galt. Vielmehr sei entscheidend gewesen, dass Damaskus ein Hauptort an einer der vielbereisten Straßen nach Jerusalem war, die die Pilger zu den drei Pilgerfesten benutzten. Wahrscheinlich habe in Damaskus − wie auch in Alexandria − eine Überprüfung der Identität der Pilger stattgefunden, um den Tempel und seine Unversehrtheit bei den Pilgerfesten vor unerbetenen Eindringlingen zu schützen. Möglicherweise hätten sich einige derjenigen, die die Überprüfung der Identität durchführten, dem Glauben an den Messias Jesus angeschlossen und somit in den Augen der jüdischen Autoritäten die Befugnis zu ihrer Aufgabe verloren. Die Überprüfung des Sachverhaltes vor Ort sei vermutlich der Grund für die Entsendung des Saulus nach Damaskus gewesen. Es sei also wohl nicht nur darum gegangen, dass einige Mitglieder der jüdischen Gemeinde Jesus als Messias ansahen. C. S. Mann erwägt, dass der "Jünger“ Hananias (vgl. Apg 9,10-19a) ein Verwandter des in Apg 23 erwähnten namensgleichen Hohenpriesters war.

 

 

Literaturübersicht

 

Gaventa, Beverly Roberts; From Darkness to Light: Aspects of Conversion in the New Testament (Overtures to Biblical Theology 20), Philadelphia, Pennsylvania 1986

Légasse, Simon; Paul’s pre-Christian Career according to Acts, in: R. Bauckham [ed.], The Book of Acts in Its Palestinian Setting (The Book of Acts in Its First Century Setting 4), Grand Rapids, Michigan − Carlisle 1995, 365-390

Lyonnet, Stanislas; “La voie” dans les Actes des Apôtres, RSR 69/1 (1981), 149-164

Mann, C. S.; Saul and Damascus, ET 99/11 (1988), 54-55

Marguerat, Daniel; Saul’s Conversion (Acts 9,22,26) and the Multiplication of Narrative in Acts, in: C. M. Tuckett [ed.], Luke’s Literary Achievement (JSNTS 116), Sheffield 1995, 127-155

Rapske, Brian; The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in Its First Century Setting 3), Grand Rapids, Michigan - Carlisle 1994

 

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