Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Apostelgeschichte (Apg 27-28)

Apg 27,13-20

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Apg 27,13-20

 

 

Übersetzung

 

Apg 27,13-20:13 Als ein leichter Südwind aufkam, meinten sie das Vorhaben im Griff zu haben. Sie lichteten die Anker und fuhren möglichst nah an Kreta entlang. 14 Nicht viel später brach jedoch von [der Insel] her(ab) ein Wirbelsturm los, der sogenannte Eurakylon. 15 Da das Schiff mitgerissen wurde und nicht [mehr] mit dem Bug in den Wind gedreht werden konnte, gaben wir es preis und ließen uns treiben. 16 Als wir in den Windschatten einer (gewissen) kleinen Insel namens Kauda kamen, vermochten wir nur mit Mühe das Beiboot in die Gewalt zu bekommen. 17 Nachdem sie es gehievt hatten, wandten sie Hilfsmaßnahmen an, indem sie das Schiff [mit Tauen] umspannten. Und weil sie fürchteten, in die Syrte verschlagen zu werden, ließen sie den Treibanker hinunter und trieben so dahin. 18 Da wir heftig vom Sturm bedrängt wurden, ließen sie am folgenden [Tag Ladung] über Bord gehen 19 und warfen am dritten die Schiffsausrüstung weg. 20 Über mehrere Tage hin zeigten sich weder Sonne noch Sterne und ein nicht geringes Unwetter setzte uns zu. So schwand schließlich jede Hoffnung, dass wir gerettet werden könnten.

 

 

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V. 13

 

Beobachtungen: Da man mehrheitlich beschlossen hatte, trotz der Warnungen des Paulus vor Unwetter und drohendem Schaden an Schiff und Ladung sowie am Leben der Schiffsreisenden nicht in "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) zu überwintern, wartete man auf günstigen Wind, um die Reise zum etwa 80 Kilometer weiter westlich an der kretischen Küste gelegenen Phönix fortzusetzen.

Als für die Weiterreise geeigneter Wind wurde der aufkommende leichte Südwind angesehen. Zunächst verwundert das, denn wenn die Bucht "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) tatsächlich nach Osten hin geöffnet war (vgl. Beobachtungen zu 27,8), dann hätte bei Westwind das Schiff leichter aus der Bucht fahren können. Westwind wäre allerdings bei der Weiterfahrt nach Phönix hinderlich gewesen. Optimal für die Weiterfahrt wäre an der von Osten nach Westen langgestreckten Südküste Kretas Ostwind gewesen. Allerdings macht die Südküste wenige Kilometer westlich von "Gute/Schöne Häfen“ am Kap Lithino einen Knick nach Norden, sodass dann der Südwind zum Rückenwind werden würde, womit man auf besonders gutes Vorankommen hoffen konnte. Nach etwa 20 Kilometern knickt die kretische Südküste wieder nach Westen hin ab, wobei der Südwind zwar kein Rückenwind mehr sein, aber auch nicht das Vorankommen hindern würde. Alles in allem konnte der leichte Südwind also als ein für die Weiterreise geeigneter Wind angesehen werden.

 

Die Grundbedeutung des Verbs "airô“ ist "hochheben“. In V. 13 wird konkret der Anker bzw. werden die Anker hochgehoben, womit die Bedeutung "den/die Anker lichten“ vorliegt. Das Lichten des Ankers bzw. der Anker markierte den Beginn der Weiterreise.

 

"Asson“ ist ein Komparativ und bedeutet "näher an/bei“. Hier ist wohl gemeint: "näher als gewöhnlich“. Als Elativ verstanden bedeutet "asson“ "so nah wie möglich“. Man fuhr wohl so dicht wie möglich an der kretischen Südküste entlang, weil die Küstenlinie in der antiken Schifffahrt der Orientierung diente und man außerdem bloß nicht zu sehr auf hohe See und damit möglicherweise in ungünstige Winde geraten und abgetrieben werden wollte.

 

Weiterführende Literatur: M.-É. Boismard, A. Lamouille 1987, 48-58 legen dar, dass die Apg in vier Redaktionsschritten (Apg I-IV) entstanden sei. Dabei sei Apg II auf Grundlage von Apg I entstanden, sei jedoch an den geänderten kirchlichen Rahmenbedingungen und neuen Anforderungen der Gemeinden ausgerichtet worden. Apg III habe Apg I und II miteinander verschmolzen und so bewahrt, allerdings einige Passagen überarbeitet und darüber hinaus auch neue eingefügt. Apg IV wiederum gründe auf Apg III, habe jedoch Unebenheiten geglättet und Ungereimtheiten beseitigt. Der westliche Text gebe Apg III wieder, der alexandrinische Text Apg IV. Diese These versuchen M.-É. Boismard, A. Lamouille anhand von Apg 27,1-13 zu belegen.

 

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V. 14

 

Beobachtungen: Die für die Weiterfahrt Verantwortlichen hatten aber nicht die Rechnung mit einem baldigen Wechsel des Windes gemacht. Vermutlich kurz nach dem Umschiffen das Kap Lithino kamen die Schiffsreisenden unvorhergesehen in einen "Eurakylon“ genannten "Wirbelsturm“ ("anemos typhônikos“).

 

Der Name "Eurakylon“ ("Eurakylôn“; laut zwei abweichenden Lesarten "Euroklydon“ bzw. "Euryklydon“, wobei "eurys klydôn“ "breite Welle“ bedeutet; lateinisch: "Euroaquilo“) ist durch die Verbindung zweier Windbezeichnungen in einem einzigen Namen entstanden: euros und aquilo. Als euros wurde ein Südostwind bezeichnet, als aquilo ein Nordwind.

Wie ist der aus zwei Windbezeichnungen bestehende Name angesichts der Tatsache zu verstehen, dass ein Wind nicht gleichzeitig aus Norden und Südosten wehen kann? Zunächst einmal kann man annehmen, dass der Eurakylon aus einer Richtung wehte, die zwischen Südosten und Norden lag. Am ehesten wäre dabei an den Nordosten zu denken, womit es sich um einen Nordostwind gehandelt hätte. Um einen gewöhnlichen kräftigen Nordostwind kann es sich jedoch nicht gehandelt haben, weil es sich um einen "Wirbelwind“ ("anemos typhônikos“) handelte und der Wind somit seine Richtung wechselte. Wie hat man sich diese Richtungswechsel vorzustellen? Handelte es sich um einen Tornado, also um einen Windwirbel? Oder handelte es sich um einen Sturm, der plötzlich seine Richtung änderte, vielleicht von Nord auf Südost und umgekehrt?

 

"Kat' autês“ kann mit "gegen sie“ oder "von ihr herab“ übersetzt werden, wobei sich "autês“ ("ihr“) auf die in V. 13 genannte Insel Kreta beziehen dürfte. Entweder hat der Eurakylon also gegen die Insel geblasen oder er war ein Fallwind, der von den Bergen des Inselinneren − es ist wohl an das über 2000 Meter hohe Ida-Gebirge zu denken − zur Küste hin blies. Da das Schiff an der Südküste entlang fuhr, muss der Wind in ersterem Fall aus einer südlichen Richtung (Südwest bis Südost), in letzterem Fall aus einer nördlichen Richtung (Nordwest bis Nordost) geblasen haben, und zwar wirbelnd oder mit Richtungswechseln.

 

Weiterführende Literatur: C. H. Talbert, J. H. Hayes 1995, 321-326 befassen sich mit folgenden Fragen: Welcher theologische Inhalt hat sich den Lesern der Sturmberichte Lk 8,22-25 und Apg 27 erschlossen? Wie fügen sich diese beiden Sturmberichte in das lukanische Gesamtwerk ein? Ergebnis (zu Apg 27): Der Schiffbruch und der Angriff der Schlange seien keine Strafe Gottes gewesen. Die Rettung des Paulus sei nicht auf dessen Leistung, sondern auf den Plan Gottes zurückzuführen. Gott erweise Paulus als Gerechten, nicht als Sünder. Dem entspreche, dass in 23,12-26,32 auch Menschen die Unschuld des Paulus bekräftigten. Diese Aspekte fügten sich nahtlos in den weiteren literarischen und theologischen Horizont des lukanischen Gesamtwerkes ein.

 

Zu den Windverhältnissen im Mittelmeerraum siehe P. Pomey 1997, 25-31. Im Sommer hätten gleichmäßige Hauptwinde vorgeherrscht, die die zu bevorzugenden Schifffahrtsrouten vorgegeben hätten. Zu den anderen Jahreszeiten seien die Windverhältnisse instabiler gewesen. Eine besondere Bedeutung sei den lokalen Winden zugekommen, die aufgrund ihrer Stärke und ihres plötzlichen Aufkommens eine Gefahr dargestellt hätten.

 

Laut H. Warnecke 2000, 62-64.101-102 sei es in "Gute Häfen“ deshalb zu einer heftigen Diskussion gekommen, weil man einerseits das geladene Getreide nicht während einer Überwinterung auf Kreta in der hohen Luftfeuchtigkeit verfaulen lassen wollte (zur Gefahr des Faulens und der Bildung von Mehltau und Sprossen siehe N. Hirschfeld 1990, 28), es andererseits aber ausgesprochen riskant gewesen sei, sich dem Südwind anzuvertrauen, denn dieser habe als Regen bringend, stürmisch und Sicht behindernd gegolten. Es hätten sich im Spätherbst zwischen Nordafrika, Griechenland und Sizilien gefährliche Wirbelstürme gebildet, sog. Zyklone. In einen solchen sei das Schiff schließlich geraten. Mit der beschriebenen typischen Großwetterlage seien auch die Kälte und anhaltenden Regengüsse (vgl. 28,2) und die extrem starke Wolkenbildung, die jegliche Orientierung am Stand der Sonne und Sterne vereitelt habe (27,20), zu erklären. Die Befürchtung der Seeleute, im Wirbelsturm in die Syrte verschlagen zu werden, sei verständlich gewesen, jedoch nicht zutreffend gewesen: Das Schiff sei nichts südwärts in Richtung Syrte, sondern nordwärts "in die Adria“ gedriftet und schließlich auf der westgriechischen Insel Kephallenia gestrandet (vgl. H. Warnecke 1987, 35-57.98-104). C. Sant, J. Sammut 1990, 328 meinen, H. Warnecke gebe der Furcht vor dem Stranden auf den im Süden liegenden Syrten zu wenig Gewicht. J. Wehnert 1990, 78-80 kritisiert, dass H. Warnecke den in 27,14 genannten Wirbelsturm, der dort mit dem Eurakylon identisch sei, kurzerhand von dem letzteren abkoppele und ihn zu einem "Scirocco“ befördere, der das Schiff nach Ablassen des Eurakylon ergriffen und es, langsam von Ost und Südost über Süd nach Südwest drehend, in die Nähe der westgriechischen Küste getrieben habe.

J. Börstinghaus 2010, 432-444 versucht anhand eines Blickes auf die − durchaus verwickelte − Geschichte griechischer Windsysteme und −namen die Bedeutung der Windbezeichnung "Eurakylon“ zu erklären. Anhand des sog. Turmes der Winde, der diesem zugrundeliegenden achtstrichigen Windrose und der regelmäßigen zwölfstrichigen Windrose, wie sie sich im Bereich des Forums der römischen Stadt Thugga im heutigen Tunesien finde, lasse sich zeigen, dass es sich bei dem Eurakylon nicht um einen drehenden Wind handelt. Auf der Windrose von Thugga tauche der Eurakylon (mit seinem lateinischen Namen Euroaquilo) auf, und zwar als eine Art Nordostwind. J. Börstinghaus weist auf die Unterscheidung zwischen Kardinalwinden, primären Nebenwinden und sekundären Nebenwinden hin. Die sekundären Nebenwinde seien in der Namengebung viel stärkeren Schwankungen als die Kardinalwinde und primären Nebenwinde ausgesetzt gewesen. So habe man ihre Namen, wie im Falle des Eurakylon/Euroaquilo, gelegentlich aus zwei Windnamen zusammengesetzt (= Kompositname). Dabei sei kein Hinderungsgrund gewesen, dass der Eurakylon/Euroaquilo nicht genau zwischen Eurus und Aquilo steht. Zu den Windnamen in Inschriften und Windrosen vgl. C. J. Hemer 1985, 94-98.

G. Kettenbach 1994, 90-107 geht dagegen bei dem Eurakylon von einem Wind aus südlicher Richtung aus. Er begründet dies wie folgt: Das Schiff des Paulus fahre ganz dicht unter der Südküste Kretas entlang. Hier fahre es im Windschatten der nördlichen Winde. Die nördlichen Winde, die sich an den über 2000 Meter hohen und sehr steil ansteigenden Bergen Kretas stauten, fielen − oft als tosende Fallwinde − an der Südküste ins Meer. Wer aber ganz dicht unter der Küste (oder weit auf dem Meer) fahre, den erreichten die bisweilen wochenlang andauernden Fallwinde nicht. Die Formulierung "ebalen kat' autês“ sei mit "er (= der Wirbelwind) warf sich gegen sie (= die Insel Kreta)“ zu übersetzen. Nur ein Wind aus südlicher Richtung habe sich gegen die Südküste Kretas werfen können.

N. Heutger 1984, 86-88 meint, der Herbststurm, um den es in der Apg gehe, sei der Gregal, der noch heute im Herbst und Winter vom Nordosten, also letztlich vom Balkan, auf die Insel Malta einstürme und jede Schifffahrt einfacher Form zum Erliegen bringe. Die Stätte des Schiffbruchs des Paulus im Jahre 60 n. Chr. sei so seit eh und je einzig an der Nordküste Maltas gesucht worden. Die Südküste werde nie vom Gregal berührt. Aus dieser Beobachtung und weiteren zur maltesischen Topographie folgert N. Heutger die Zuverlässigkeit des seiner Meinung nach von einem Begleiter des Paulus herrührenden Wir-Berichtes. Hier liege echte Erinnerung vor.

 

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V. 15

 

Beobachtungen: Das Verb "antophthalmeô“ ist wörtlich mit "gerade ins Auge blicken“ zu übersetzen. Gemeint ist: "Widerstand leisten“, "trotzen“. Mit Blick auf die Schifffahrt ist wohl konkret "den Bug des Schiffes in den Wind richten“ gemeint. Vielleicht war einem antiken Brauch entsprechend der Bug des Schiffes mit Augen bemalt.

 

V. 15 führt den in 27,1-37 enthaltenen dritten Wir-Bericht fort (die ersten beiden umfassten 16,10-17 sowie 20,5-15; 21,1-18). Dabei irritiert der unvermittelte Wechsel vom Sie-Bericht zum Wir-Bericht. Dieser mag darin begründet liegen, dass der Sprecher klar unterscheiden wollte, welche Handlungen, Entscheidungen und Gefühle ihn einschlossen und welche nicht. Der Wechsel zwischen "sie“ und "wir“ mag aber auch darauf hinweisen, dass in 27,13-20 ein Wir-Bericht mit einem anderen Bericht verwoben wurde und dieser Abschnitt somit ursprünglich keine literarische Einheit darstellte.

Geht man davon aus, dass der Sprecher des ersten Wir-Berichtes mit dem des zweiten identisch ist, dann lässt sich aus den ersten beiden Wir-Berichten nichts zum Sprecher im dritten Wir-Bericht herleiten, weil der Sprecher in den ersten beiden Wir-Berichten nur berichtet, ohne selbst seine Identität preiszugeben. Vermutlich ist er mit keiner der in den ersten beiden Wir-Berichten namentlich genannten Personen zu identifizieren. Also ist darauf zu achten, ob sich aus dem in 27,1-37 enthaltenen Wir-Bericht Schlüsse auf die Identität des Sprechers ziehen lassen. Bis V. 15 war dies nicht der Fall.

 

Weiterführende Literatur: Einen Forschungsüberblick über die Frage, wie die Wir-Stücke zu erklären sind, bietet J. Börstinghaus 2010, 282-304. Grundsätzlich habe man fünf Möglichkeiten erwogen, die Wir-Stücke zu erklären: a) Der traditionelle Ansatz: Man nehme an, dass der Verfasser durch das Wir anzeige, welchen Geschehnissen er als Augenzeuge und somit historischer Paulusbegleiter selbst beigewohnt hat. b) Der quellenkritische Ansatz: Man nehme an, dass der Verfasser eine Quelle, die bestimmte Phasen der Paulusreisen schilderte und im sog. "Wir-Stil“ verfasst war, ganz oder auszugsweise bzw. gekürzt zitiert und die 1. Pers. Pl. übernommen habe. c) Der Anspruch des Verfassers: Man nehme an, dass der Verfasser durch die Wir-Passagen einen (unberechtigten) Anspruch auf Augenzeugenschaft oder zumindest auf Erfahrung als Seereisender im östlichen Mittelmeerraum erhebe. d) Die literarische Erklärung: Man nehme an, dass Wir-Passagen ein literarisches Stilmittel seien, das auch sonst belegbar ist; der Verfasser habe sich dieses Stilmittel zunutze gemacht. e) Die theologische Erklärung: Man nehme an, dass der Verfasser die Wir-Passagen mit einer (im weiteren Sinne) theologischen Aussageabsicht eingesetzt habe. J. Börstinghaus sehe derzeit keine in jeder Hinsicht schlüssige und befriedigende Lösung für das Wir-Problem und versuche daher auf S. 304-345, wenigstens für das Wir-Stück 27,1-28,16, einen neuen (?) Erklärungsversuch zu unterbreiten. Dabei knüpft er an die Idee eines Rechenschaftsberichtes an. Diese sei von D.-A. Koch konsequent auf das eine Wir-Stück Apg 20,5-21,18 bezogen worden. Das sei ebenso neu wie die präzisen Überlegungen zu Abfassungs- und Verwendungszweck des Dokuments. D.-A. Koch 1999, 367-390 vertrete die plausible These, dass das zweite Wir-Stück (Apg 20,5-21,18) und nur dieses (ohne die Abschiedsrede in Milet 20,18-35), aber mit der Liste der Teilnehmer an der Kollektendelegation (20,4) auf einem Rechenschaftsbericht basiere, der auch in der 1. Pers. Pl. abgefasst gewesen sei. Dieser Rechenschaftsbericht habe dazu gedient, nach der Rückkehr von den einzelnen Gemeinden Rechenschaft über die Durchführung der Kollekte zu geben. In Analogie zu diesem Rechenschaftsbericht der Kollektendelegation nimmt J. Börstinghaus einen Rechenschaftsbericht an, in dem die wohl von der Gemeinde in Cäsarea dem Paulus als Geleit mitgeschickten Männer über ihr Tun und Lassen während der Reise nach Rom Bericht erstatteten, nachdem sie zu ihrer Gemeinde nach Cäsarea zurückgekehrt waren. Dieser Rechenschaftsbericht werde nur eine dürre Ansammlung von Informationen zum Inhalt gehabt haben, die Lukas aber als Gerüst einer großen Seereiseerzählung gedient haben dürften. Diese habe er dann, durch verbreitete Seefahrtserzählungen beeinflusst, relativ selbstständig und frei gestaltet, dabei aber die Erzählperspektive aus der 1. Pers. Pl. aus dem Bericht übernommen. Dem Lukas vorliegenden Rechenschaftsbericht seien in erster Linie die Orts- und Personennamen in 27,1-9.12 sowie in 28,1.11-16 zuzuweisen. Darüber hinaus könnten in dem Bericht auch einzelne Informationen über den Fahrtverlauf enthalten gewesen sein, wahrscheinlich auch die Zahlenangabe 276 in 27,37.

C. J. Hemer 1985, 79-109 deutet den Wir-Bericht in Apg 27-28 als Ausdruck der "Unmittelbarkeit“ der Erfahrung des Verfassers.

 

C.-J. Thornton 1991, 200-367 legt dar, dass Lukas nicht habe im Sinne der antiken Geschichtsschreibung Augenzeugenschaft für bestimmte Ereignisse beanspruchen wollen. Andernfalls hätte es genügt, im Proömium darauf hinzuweisen, dass er Paulus auf einigen seiner Reisen begleitet hatte und darum teilweise aus eigener Anschauung berichten könne. Aufgrund der detaillierten Darstellung der Europa-, Jerusalem und Romreise hätten die Leser selbstverständlich gewusst, wo der Erzähler am Geschehen beteiligt war. Allenfalls hätte er am gegebenen Ort jeweils hinzugefügt, dass er dies oder jenes miterlebt habe. Dies sei aber nicht seine Absicht gewesen. Vielmehr wolle sich Lukas einem relativ begrenzten und überschaubaren Kreis von Lesern gegenüber als Zeuge dafür verstanden wissen, dass und wie sich in entscheidenden Momenten der Geschichte des Christentums der göttliche Plan verwirklichte.

J. Wehnert 1989, 182-183 geht davon aus, dass sich Lukas bei den Wir-Passagen eines Stilmittels der jüdischen Literatur bediene, nämlich der (nachträglichen) Autorisierung eines Textes, und auf diese Weise seine um unbedingte Zuverlässigkeit bemühte Darstellung absichere (vgl. S. 182-183). Zu 27,1-28,16: Die sporadische bzw. ganz fehlende Verwendung des "Wir“ in den Abschnitten 27,13-44; 28,3-6.8-10a werfe die Frage auf, ob es sich hierbei um sekundäre Erweiterungen des Romreiseberichts handelt. Für diese Möglichkeit spreche vor allem, dass der Reisebericht 27,1-8 eine glaubwürdige und folgerichtige Fortsetzung erst in 28,11ff. finde: Das dreimonatige Überwintern von Schiff und Besatzung hätte in diesem Fall auf Kreta stattgefunden. Für diese Möglichkeit spreche weiter, dass das alexandrinische Schiff mit Fahrtziel Italien von 27,6 mit dem alexandrinischen Schiff mit Fahrtziel Syrakus - Rhegion − Puteoli von 28,11-13 fraglos identisch sein kann, so dass sich die historische Frage nach einem Schiffbruch des Paulus vor Malta erübrige. Der Aufenthalt auf Malta habe wohl nur drei Tage und nicht drei Monate gewährt. Ansonsten sei der Widerspruch zwischen den Zeitangaben "drei Tage“ (vgl. 28,7) und "drei Monate“ (vgl. 28,11) unlösbar. Als Resultat hält J. Wehnert fest, dass zwischen der Reisebeschreibung 27,1-8; 28,1-2.7.10-16 und den lukanischen Ergänzungen (den Pauluspassagen samt dem Seeabenteuer 27,9-44 sowie den Wundergeschichten 28,3-6.8-9; sämtlich mit dem Wir-Bericht nur lose oder gar nicht verknüpft) deutlich unterschieden werden müsse. Statt des von Lukas berichteten Schiffbruchs vor Malta sei in der Tradition wohl nur von einer (etwa dreimonatigen) Überwinterung auf Kreta die Rede gewesen, nach deren Ende die Fahrt nach Italien (mit dreitägigem Zwischenaufenthalt auf Malta) bestimmungsgemäß fortgesetzt worden sei (vgl. S. 44-45.110-112.193-196). Eine kritische Auseinandersetzung mit der literarkritischen Analyse von J. Wehnert bietet A. Suhl 1991, 21-28.

 

D. R. MacDonald 1999, 88-107 stellt zahlreiche Ähnlichkeiten der Schiffbrucherzählungen in der Apg und in der Odyssee des Homer (Buch 5 und 12) fest. So fänden sich auch in der Odyssee Wir-Berichte. Der Ablauf und das Vokabular der Schiffbrucherzählungen in der Apg und in der Odyssee des Homer ähnelten sich. Auch in der Odyssee werde die Rettung angekündigt, wenn auch nicht von einem Engel, sondern von der Meeresgöttin. Die Rettung erfolge sowohl in der Apg als auch in der Odyssee mittels des Schwimmens auf Planken. Sowohl Paulus als auch Odysseus würden auf der unbekannten Insel der Rettung von den Einheimischen freundlich aufgenommen und schließlich fälschlicherweise für einen Gott gehalten. Und schließlich erführen beide Helden bei ihrer Abreise Ehren. Nicht historische Fakten seien also Grundlage der Schiffbrucherzählung des Paulus, sondern literarische Fiktion. Lukas habe die Vorlage des Homer nicht nur imitiert, sondern christlich umgewandelt. Seine Absicht sei es gewesen, durch den Bezug des Schiffsbruchs des Paulus auf die Schiffbrüche des Odysseus Paulus und seinen Gott mittels eines Vergleichs zu erhöhen. Anders als Poseidon und Zeus sei der Gott des Paulus nicht für den Sturm verantwortlich, sondern nur für die Rettung. Odysseus verliere die Hoffnung, Paulus bleibe voller Vertrauen. Nur der Gott des Paulus rette sämtliche Schiffbrüchigen. Und schließlich werde bei Homer zwar der Held glänzend dargestellt, aber die Apg überrage die Odyssee hinsichtlich der Tugend des Paulus und seines Gottes.

 

R. W. White 2002, 405-406 geht der Frage nach, wie es kommen konnte, dass sich die erfahrenen Segler von dem kräftigen Nordoststurm dermaßen überwältigen ließen, dass sie die Kontrolle über das Segelschiff verloren und sich plötzlich in Richtung des Windes nach Südwesten abtreiben ließen. Die theologische Sicht sehe den Eurakylon als Strafe Gottes für den Ungehorsam der Schiffsbesatzung und des Hauptmanns Julius an. So habe der Eurakylon schließlich zur Bekehrung der Bestraften zum christlichen Glauben führen sollen. Diese Deutung sei jedoch wohl nicht richtig, denn eine solche Erfahrung hätte sicherlich zur Begnadigung des Paulus als Dank der Schiffsbesatzung und des Hauptmanns für die folgende Rettung geführt. Eine Begnadigung hätte jedoch verhindert, dass Paulus seine Mission in Rom beenden konnte. Richtig sei wohl eine meteorologische Deutung der Geschehnisse: Es habe sich um eine Zeit gehandelt, in der wochenlang Stürme von West nach Ost gezogen sind. In den Zwischenzeiten habe es durchaus gutes Wetter gegeben, wobei die Windrichtung ständig gewechselt habe. Angesichts der je nach Zeit und Ort unterschiedlichen Wetterlage sei es notwendig gewesen, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. In dieser Wetterlage habe die Schiffsbesatzung die auf einen Nordoststurm hinweisenden Vorzeichen nicht wahrgenommen oder falsch gedeutet.

 

Zu apotropäischen Augen auf dem Schiffsbug siehe P. A. Gianfrotta 1997, 112-113.

 

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V. 16

 

Beobachtungen: Wenn das Segelschiff tatsächlich von einem vom im Nordosten gelegenen Ida-Gebirge herabfallenden "Wirbelsturm“ erfasst und abgetrieben wurde, dürfte es sich bei der kleinen Insel Kauda (andere Lesart: Klauda) um die Insel Gavdos handeln, die im Südwesten des vermutlichen Aufenthaltsortes des Schiffes bei Beginn des "Wirbelsturms“ lag.

Der westliche Text macht durch einen Einschub deutlich, dass man dem Wind freien Lauf gegeben und die Segel eingerollt hatte, bevor man sich treiben ließ.

 

Das Verb "hypotrechô“ bedeutet "an … vorbei segeln“ oder "unter … her segeln“. "Unter … her“ ist dabei nicht so zu verstehen, dass es unter der Insel einen schiffbaren Tunnel gegeben hätte, sondern bedeutet "auf der Seite, die der Richtung, aus der der Wind kommt, abgewandt ist (= Lee-Seite)“. Somit wurde das Segelschiff an der Insel Gavdos vorbeigetrieben, und zwar auf der windgeschützten Seite, also im Süden bzw. Südwesten.

Möglich ist, dass man die kleine Insel Kauda anfahren wollte, um sich auf ihr vor dem "Wirbelsturm“ in Sicherheit zu bringen. Allerdings kommt ein solches Vorhaben in 27,13-20 nicht in den Blick. Es würde voraussetzen, dass die Insel einen Hafen besaß oder es bei dem Unwetter möglich war, das Segelschiff vor der Insel zu sichern und mit dem Beiboot zum Ufer zu fahren. Das ist eher unwahrscheinlich und das in V. 17 erwähnte Hieven des Beibootes lässt auch nicht annehmen, dass man das Beiboot in Kürze wieder zu benutzen gedachte.

 

"Skaphê“ ist ein Boot, vermutlich das Beiboot, das für An- und Ablegemanöver benötigt wurde und möglicherweise im Notfall als Rettungsboot dienen sollte. Dieses Beiboot wurde vermutlich im Schlepp mitgeführt. Weil es im "Wirbelsturm“ abzureißen oder das Segelschiff Leck zu schlagen drohte, musste es an Bord des Segelschiffes gehievt werden. Dazu musste man allerdings bei dem "Wirbelsturm“ und hohen Seegang erstmal das Beiboot in die Gewalt bekommen, denn es konnte wohl schon längst nicht mehr ruhig hinter dem Segelschiff hergeschleppt werden. Überhaupt stellt sich die Frage, ob man nicht viel zu spät daran dachte, das Beiboot an Bord zu hieven, denn nach längerer Zeit des "Wirbelwindes“ und hohen Seegangs ist anzunehmen, dass das Beiboot das Segelschiff schon längst Leck geschlagen und/oder selbst Schaden genommen hatte. Ebenfalls könnte das Beiboot schon vom Segelschiff abgerissen worden und verloren gegangen sein. Nachdem man das rechtzeitige Sichern des Beibootes wohl versäumt hatte, musste man bis zur nächstbesten Gelegenheit warten, bei der das Sichern möglich sein würde. Diese Gelegenheit war im Windschatten der Insel Gavdos gegeben, allerdings war auch dort der "Wirbelsturm“ noch so stark und der Seegang so hoch, dass das Sichern der Beibootes größte Mühe verursachte.

 

Weiterführende Literatur: Eine Abbildung eines Beibootes im Schlepptau bieten P. Pomey, A. Tchernia 1997, 12.

 

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V. 17

 

Beobachtungen: Es fällt auf, dass der Bericht erstattende Augenzeuge selbst dabei half, das Beiboot in die Gewalt zu bekommen, was annehmen lässt, dass alle Mann bei der schwierigen Aufgabe gebraucht wurden. Bei dem Hieven des Beibootes und bei der Anwendung der Hilfsmaßnahmen war er dann wohl nicht mehr aktiv, worauf der Wechsel vom "wir“ zum "sie“ hinweist.

 

Die "Hilfsmaßnahmen“ ("boêtheiai“) galten dem Schiff (ploion) , womit wohl nicht das Beiboot (skaphê), sondern das Segelschiff gemeint sein dürfte. Dieses wird auch in 27,2.6.10.15.19.22.30-31.37-39.44; 28,11 als "ploion“ bezeichnet.

 

Die Hilfsmaßnahmen bestanden daraus, dass das Schiff umgürtet/umspannt wurde. Der Plural "Hilfsmaßnahmen“ weist wohl darauf hin, dass dieses Umgürten/Umspannen aus einer Mehrzahl Handlungen bestand. Fraglich ist, wie man sich das Umgürten/Umspannen vorzustellen hat und womit es geschah. Am ehesten ist daran zu denken, dass das Umgürten/Umspannen mit den auf dem Schiff verfügbaren Tauen geschah. Diese wurden wohl um das Schiff gespannt, wobei anzunehmen ist, dass diese Hilfsmaßnahmen die Stabilität des Schiffes stärken sollten, das ansonsten im "Wirbelsturm“ auseinanderzubrechen drohte. Genaueres über die Vorgehensweise beim Umspannen des Schiffes erfahren wir nicht. Das Schiff kann also der Länge nach und/oder der Breite nach umspannt worden sein, wobei die genaue Lage und Zahl der Taue offen bleibt. Auch bleibt offen, wie die Taue gespannt wurden. Möglicherweise hat man sich dazu einer Seilwinde bedient.

Gegen die Annahme, dass das Beiboot umgürtet/umspannt wurde, um es dann umgürtet/umspannt zu hieven, spricht neben der Verwendung des Begriffs "ploion“, der das Segelschiff und nicht das Beiboot bezeichnet, auch das Partizip "arantes“ "gehievt habend“. Bei diesem handelt es sich nämlich um einen Aorist, der Vorzeitigkeit anzeigt. Das Hieven fand also vor dem Umgürten/Umspannen statt.

 

Neben dem drohenden Auseinanderbrechen des Segelschiffes fürchtete man auch, bis in die "Syrte“ ("Syrtis“) abgetrieben zu werden. Dabei ist anzunehmen, dass mit der "Syrte“ die Große Syrte gemeint ist, eine weite Bucht des Mittelmeeres an der Nordküste Libyens. Diese Bucht lag etwa 600 Kilometer entfernt. Dass trotz dieser großen Entfernung überhaupt der Gedanke an diese Bucht aufkam, weist zum einen auf die außergewöhnliche Stärke des "Wirbelsturms“ hin, zum anderen aber auch auf das Ausmaß der Panik, die die Schiffsbesatzung ergriffen hatte. Vermutlich trug auch der Gedanke an die gefürchteten Sandbänke der Großen Syrte, auf denen das Segelschiff auflaufen und Schaden nehmen oder sogar zerbrechen konnte, zur Panik bei. Unwahrscheinlich ist, dass in größerer Nähe zum Segelschiff gelegene Sandbänke als "Syrte“ bezeichnet wurden, auch wenn dieser Gedanke aufgrund der doch sehr großen Entfernung der Großen Syrte nahe liegt.

 

Das Substantiv "skeuos“ kann jede Art Schiffsgerät bezeichnen. Es wurde also irgendein Schiffsgerät heruntergelassen. Doch um welches Schiffsgerät mag es sich gehandelt haben? Angesichts der Tatsache, dass das Herunterlassen des "Schiffgeräts“ das Tempo verlangsamen sollte und zum Treiben führte, ist an das Herunterlassen des Hauptsegels − oder auch aller Segel − oder an das Herunterlassen des Treibankers zu denken. Wenn das Hauptsegel heruntergelassen, also eingeholt wurde, dann hatte der Wind weniger Angriffsfläche. Da der Wind das Segelschiff nicht voran, sondern vom Kurs abbrachte, war eine solche Verringerung der Angriffsfläche durchaus sinnvoll. Bei dem Treibanker handelte es sich wohl um einen schwimmenden größeren Gegenstand, der vermutlich an einem Seil mit dem Segelschiff verbunden war und die Fahr- bzw. die Abdriftgeschwindigkeit verringern sollte.

 

Weiterführende Literatur: Laut C. Reynier 2006, 103-105 seien die einzelnen Teile des Schiffes mit Holzstiften verbunden gewesen. Damit sich die Teile nicht durch Alter oder Unwetter lockerten, habe man das Schiff mit Tauen unbekannter Art umgürtet. Diese Praxis sei in der Antike gängig gewesen, auch wenn dies in der Apg bei Sturm und somit unter ungewöhnlich schwierigen Bedingungen geschehen sei. Überhaupt sei nur in der Apg vom Umgürten eines Handelsschiffes die Rede. Vgl. N. Hirschfeld 1990, 25-27, die anmerkt, dass die Taue in erster Linie als Ausstattungsgegenstände von Kriegsschiffen (insbesondere der athenischen Triremen des 5. Jh.s v. Chr.) erwähnt würden.

 

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V. 18

 

Beobachtungen: Das Substantiv "ekbolê“ sagt nur aus, dass etwas von Bord geworfen wurde, aber nicht, was es war. In erster Linie dürfte das Segelschiff Getreide transportiert haben (vgl. Beobachtungen zu 27,6), weshalb zunächst an Getreide zu denken ist. Allerdings ist fraglich, ob man wirklich einen Teil des Haupt-Transportgutes opferte. Man kann auch anderes Transportgut von Bord geworfen haben, wobei zunächst an das Transportgut zu denken ist, das ohne Umstände greifbar war. Vielleicht handelte es sich um verzichtbare persönliche Gegenstände, die man abwerfen musste.

Wahrscheinlich musste Ladung abgeworfen werden, weil das Schiff Schieflage bekommen hatte. Die Schieflage kann durch Wasser verursacht worden sein, das durch ein Leck oder sogar mehrere Lecks in den Schiffsbauch geflossen war. Ebenso kann sie durch im "Wirbelsturm“ verrutschte Ladung verursacht worden sein. Auch eine Verbindung von beidem ist möglich: Die durch eindringendes Wasser bewirkte Schieflage des Schiffes hatte zum Verrutschen der Ladung beigetragen. Möglicherweise wurden die Güter, die verrutscht waren und sich nicht mehr am rechten Ort festmachen ließen, von Bord geworfen. Wenn tatsächlich Wasser in den Bauch des Schiffes eingedrungen war, dann war wahrscheinlich auch das Transportgut, insbesondere das Getreide, durchnässt, es sei denn, dieses war wasserdicht verpackt. Vielleicht warf man die durchnässten Güter, vielleicht durchnässtes Getreide, von Bord. Allerdings mussten diese Güter zunächst auf Deck gebracht werden, es sei denn, es gab Luken, die geöffnet werden konnten, ohne dass Wasser einströmte.

 

Weiterführende Literatur: Dass die Seeleute den Schiffsrumpf umgürteten und einen Teil der Ladung über Bord warfen, lasse sich gemäß H. Warnecke 2000, 63-64 so erklären, dass es sich bei der Ladung insbesondere um Getreide handelte, die aufzuquellen und den Schiffsrumpf zu sprengen drohte. Wegen dieser drohenden Gefahr habe man wohl auch den Schiffsrumpf umgürtet. Zu dieser Gefahr siehe auch N. Hirschfeld 1990, 28, die auch darauf hinweist, dass zwar das Beladen und Entladen von Getreide in Säcken belegt sei, der Transport des Getreides aber auch lose erfolgt sein könne.

 

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V. 19

 

Beobachtungen: In V. 19 bedeutet das Substantiv "skeuê“ entweder "Schiffsgerät“ oder "Ausrüstung“. Vermutlich handelte es sich um alle irgend entbehrlichen Gegenstände, die zur Schiffsausrüstung gehörten, wie bestimmte Segel, Masten, nicht benutzte Taue, die Seilwinde, die möglicherweise zum Anspannen der um das Segelschiff gelegten Taue (vgl. Beobachtungen zu V. 17) benutzt worden war, oder Ersatzteile. Auch um Möbelstücke wie Betten oder Truhen oder um Gebrauchsgegenstände wie Geschirr kann es sich gehandelt haben.

 

"Eigenhändig“ mag bedeuten, dass man sich beim Abwurf aller irgend entbehrlichen Bestandteile der Schiffsausrüstung keiner technischen Hilfsmittel wie einer Hebevorrichtung bedienen konnte. Ebenfalls kann gemeint sein, dass man alle helfenden Hände benötigte. Gegen letztere Möglichkeit spricht jedoch, dass in diesem Fall sicherlich auch die berichtende Person herangezogen worden wäre. Es hätte dann "und wir warfen am dritten die Schiffsausrüstung weg“ heißen müssen, d. h. die berichtende Person hätte sich selbst zu den Handelnden gezählt. Gemäß der von der von den besten Textzeugen gebotenen Formulierung des V. 19 hat die berichtende Person jedoch nur zugeschaut. Nur eine von minderwertigen Textzeugen gebotene Textvariante bietet "wir warfen weg“ ("erripsamen“) statt "sie warfen weg“ ("erripsan“).

 

Eine Textvariante verdeutlicht mittels eines Einschubes, wohin die Schiffsausrüstung weggeworfen wurde: ins Meer.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 20

 

Beobachtungen: Dass sich über mehrere Tage hin weder die Sonne noch die Sterne zeigten, macht zum einen die Stärke des Unwetters deutlich, betont darüber hinaus aber auch die Unmöglichkeit, mit dem Segelschiff den Kurs zu halten. Da es in der Antike weder Kompass noch Sextant gab, orientierte man sich tagsüber am Küstenverlauf und an der Sonne und nachts am Mond und den Sternen. Die Besatzung des in Seenot geratenen Segelschiffs hatte jedoch − abgesehen von der kleinen Insel Kauda - keine Orientierungsmöglichkeit mehr, denn von der Küstenlinie hatte man sich im "Wirbelsturm“ so weit entfernt, dass sie nicht mehr zu sehen war, und die Sonne und Gestirne waren von Wolken verdeckt und somit ebenfalls nicht zu sehen.

 

"Nicht gering“ ("ouk oligou“) kann sich sowohl auf "Unwetter“ ("cheimônos“) als auch auf "setzte uns zu“ ("epikeimenou“) beziehen. Folglich kann die Übersetzung "und ein nicht geringes Unwetter setzte uns zu“ oder "und ein Unwetter setzte uns in nicht geringem Maße zu“ lauten. Für die erstere Möglichkeit spricht die Parallele 12,18, wo es "tarachos ouk oligos“ heißt, was mit "nicht geringe Aufregung“ zu übersetzen ist.

 

Es fällt auf, dass auch den Berichterstatter die Hoffnungslosigkeit überfiel. Er scheint also in einer ähnlichen Gefühlslage wie der Rest der Schiffsreisenden gewesen zu sein. Die Religionszugehörigkeit scheint bei den Gefühlen keine Rolle gespielt zu haben.

 

Weiterführende Literatur: Möge Apg 27 auch detaillierte Orts- und Zeitangaben umfassen, die auf einen exakten Reisebericht schließen lassen könnten, möge dem erzählten Geschehen auch ein historischer Kern (vielleicht einige Notizen aus paulinischen Kreisen stammend) − eine ausführlicher Augenzeugenbericht liege kaum vor − zugrunde liegen, so sei der Duktus des gesamten, als Einheit gesehenen Kapitels laut R. Kratz 1997, 320-350 doch in erster Linie auf symbolisch-theologische (Be-)Deutung hin angelegt. Ein historischer Bericht lasse sich als Quelle unter Herauslösung der der lukanischen Redaktion zugeschriebenen Paulusszenen nicht herausarbeiten. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass Lukas als Endredaktor auf reichhaltiges Quellenmaterial zurückgegriffen hat. Seesturm- und Schiffbruchdarstellungen seien in antiker Literatur und mündlicher Tradition in reichem Angebot zuhanden, geradezu zur literarischen Gattung geworden. Veranlassung der lukanischen Darstellung müsse eine Notiz (in welchem Umfang auch immer) über die Gefangenschaftsreise des Paulus nach Rom, und damit über das gefährliche Mittelmeer gewesen sein. Zum Verständnis von Apg 27: Es gehe um die Rettung des christlichen Missionars durch Gott. Diesem seinem Verkündiger, der nicht zugrunde gehen könne, sondern in Rom vor den Kaiser treten müsse, um das Evangelium Christi ungehindert in der damaligen Weltmetropole verkündigen zu können, habe Gott auch das Leben der Mitfahrenden geschenkt. Paulus sei gleichsam der zweite − ins Positive verkehrte − Jona, der nicht vor seinem Gott davonlaufe, nicht von den Heiden beschämt werden müsse, sondern in vorbildlicher Weise zu seinem Gott stehe, ihn gläubig bekenne und dadurch den Reisegefährten Mut einflöße, ihre Rettung, ihr Heil herbeiführe.

Auch S. M. Praeder 1984, 683-706 sieht eine Beziehung zwischen Apg 27,1-28,16 und der antiken Literatur mit ihren Reiseberichten, Vorhersagen von Sturm und Schiffbruch und Sturmszenen sowie ihrer Sorge um Sicherheit auf Seereisen. Das den gesamten Abschnitt durchziehende gemeinsame theologische Thema sei die Sendung des in Jesus Christus und seiner Kirche gegründeten göttlichen Heils zu den Heiden.

 

J.-N. Aletti 1996, 375-392 sieht in der Erzählung vom Schiffbruch Apg 27 eine Analogie zur Szene am Fuße des Kreuzes Jesu Lk 23. In beiden Erzählungen werde in einem Augenblick die Unschuld bekräftigt, in der sich das Gegenteil nahe lege. Parallele zwischen Apg 27,18-20 und Lk 23,33 bezüglich der Gewalt der Elemente und der Gewalt an Jesus (Kreuzigung), dabei Zeitangabe, sowie Parallele zwischen Apg 27,20 und Lk 23,44-45 bezüglich der Verfinsterung und des Verschwindens der Gestirne.

 

Laut F. S. Spencer 1998, 150-159 handele die Apg nicht nur von der bemerkenswerten Wandlung des Paulus vom Erzfeind des Evangeliums hin zu dessen leidenschaftlichstem und dynamischstem Verkündiger, vor allem unter Heiden, sondern auch vom fortwährenden Kampf des Paulus um das Bekennen und Bewahren der neuen Identität angesichts widriger menschlicher, natürlicher und übernatürlicher Kräfte. Neben der Christuserscheinung auf dem Weg nach Damaskus (vgl. Apg 9) kämen auch den Ereignissen auf den Inseln Zypern (vgl. Apg 13) und Malta (vgl. Apg 28) am Anfang und am Ende der Missionsreisen besondere Bedeutung im Hinsicht auf die Entwicklung von Paulus' Charakter und Status zu. Im Rahmen seines Aufsatzes kommt F. S. Spencer auf verschiedene Aspekte der besonderen Bedeutung der Inseln in der Antike zu sprechen: Inseln hätten als Orte der Zuflucht, des Exils, der Erhöhung und heidnischer Bewohner gegolten. Auch Paulus erfahre Zypern als sicheres, lichtes Gebiet inmitten ungestümer Mächte der Finsternis um ihn herum. Für Paulus sei Zypern zwar kein Ort des Exils, aber doch der Auszeichnung, werde ihm doch Erstaunen und Respekt − sogar Glaube - entgegengebracht. Und schließlich werde er auf Zypern zum göttlich befähigten Führer der Verbreitung des Evangeliums und schließlich auch zum führenden Heidenmissionar. Der absolute Höhepunkt der Erhöhung des Paulus komme schließlich auf Malta. Er sei zwar ein Gefangener, werde aber verschiedentlich mit Respekt behandelt. In einer Zeit, als Paulus nicht missionarisch tätig sein konnte und in einem heftigen Unwetter mit den anderen Reisenden jegliche Hoffnung auf Rettung verlor (vgl. 27,20), habe er sich wieder als dynamischer Führer und Wohltäter herausgestellt, der aller Unbill trotzte. So habe er nicht nur seinen Mitreisenden wieder Mut gemacht, sondern sei zu großer Ehre gekommen (vgl. 28,10). Nach den Ereignissen auf Malta bis zum Ende der Apg habe er sich trotz seiner Gefangenschaft wieder wie ein Führer verhalten und das Evangelium verkündigt.

 

 

Literaturübersicht

 

Aletti, Jean-Noël; Le naufrage d’Actes 27: mort symbolique de Paul?, in: A. Marchadour [éd.], L’Évangile exploré (LeDiv 166), Paris 1996, 375-392

Boismard, Marie-Émile, Lamouille, A.; Le texte Occidental des Actes des Apôtres. À propos de Actes 27,1-13, ETL 63/1 (1987), 48-58

Börstinghaus, Jens; Sturmfahrt und Schiffbruch: Zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apostelgeschichte 27,1 − 28,6 (WUNT II/274), Tübingen 2010

Gianfrotta, Piero A.; Les marins et les passagers, in: P. Pomey [éd.], La Navigation dans l’Antiquité, Aix-en-Provence 1997, 102-113

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Heutger, Nicolaus; “Paulus auf Malta” im Lichte der maltesischen Topographie, BZ 28/1 (1984), 86-88

Hirschfeld, Nicolle; The Ship of St. Paul − Part I: Historical Background, BA 53 (1990), 25- 30

Kettenbach, Günter; Einführung in die Schiffahrtsmetaphorik der Bibel, Bern 1994

Koch, Dietrich-Alex; Kollektenbericht, “Wir”-Bericht und Itinerar. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45 (1999), 367-390

Kratz, Reinhard; Rettungswunder: Motiv-, traditions- und formkritische Aufarbeitung einer biblischen Gattung (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIII, Theologie; Bd. 123), Frankfurt a. M. u. a. 1997

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Pomey, Patrice; Les conditions de la navigation, in: P. Pomey [éd.], La Navigation dans l’Antiquité, Aix-en-Provence 1997, 18-35

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Praeder, Susan Marie; Acts 27:1-28:16: Sea Voyages in Ancient Literature and the Theology of Luke-Act, CBQ 46/4 (1984), 683-706

Reynier, Chantal; Paul de Tarse en Méditerranée. Recherches autour de la navigation dans l’Antiquité (Ac 27-28,16) (LeDiv 206), Paris 2006

Sant, C.; Sammut, J.; Paulus war doch auf Malta!, ThGl 80 (1990), 327-332

Spencer, F. Scott; Paul’s Odyssey in Acts: Status Struggles and Island Adventures, BTB 28/4 (1998), 150-159

Suhl, Alfred; Gestrandet! Bemerkungen zum Streit über die Romfahrt des Paulus, ZThK 88/1 (1991), 1-28

Talbert, C. H., Hayes, J. H.; A Theology of Sea Storms in Luke-Acts, SBL.SPS 34 (1995), 321-326

Thornton, Claus-Jürgen; Der Zeuge des Zeugen: Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT 56), Tübingen 1991

Warnecke, Heinz; Die tatsächliche Romfahrt des Paulus (SBS 127), Stuttgart 1987

Warnecke, Heinz; Paulus im Sturm: über den Schiffbruch der Exegese und die Rettung des Apostels auf Kephallenia, Nürnberg, 2., veränd. Aufl. 2000

Wehnert, Jürgen; Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte: ein lukanisches Stilmittel aus jüdischer Tradition (Göttinger Theologische Arbeiten 40), Göttingen 1989

Wehnert, Jürgen; Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Apostels Paulus auf dem Wege nach Rom (Apg 27-28), ZThK 87/1 (1990), 67-99

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