Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Kolosserbrief

Der Brief des Paulus an die Kolosser

Kol 3,12-17

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Kol 3,12-17



Übersetzung


Kol 3,12-17 : 12 Zieht also als Erwählte (des) Gottes, als Heilige und Geliebte, inniges Erbarmen an, Rechtschaffenheit, Demut, Sanftmut, Langmut; 13 haltet einander aus und vergebt euch, wenn jemand gegen einen anderen eine Beschwerde hat! Wie auch der Herr euch vergeben hat, so auch ihr! 14 - über das alles aber die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist. 15 Und der Friede (des) Christi regiere in euren Herzen, zu dem ihr auch berufen worden seid in einem Leib. Und werdet dankbar! 16 Das Wort (des) Christi wohne reichlich unter euch; lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit! Mit Psalmen, Lobgesängen, geistlichen Liedern singt (dem) Gott dankbar aus (eurem) [vollem] Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Wort[en] oder mit Werk[en], das tut alles im Namen des Herrn Jesus - und dankt dabei dem Gott Vater durch ihn!



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V. 12


Beobachtungen: Das "Ausziehen" und "Anziehen", bei dem der Wechsel von Kleidung anklingt, bezeichnet einen Seinswandel, der auch einen Wandel bei den Taten beinhaltet. Ob dieser Formulierung ein ritueller Wechsel der Kleider bei der Taufe zugrunde liegt, ist unklar.

Der Seinswandel vom "alten Menschen" zum "neuen Menschen" war Thema von 3,5-11. In diesem Abschnitt ist deutlich geworden, dass bezüglich des Seinswandels die Praxis nicht unbedingt dem Ideal entspricht. Somit ist in 3,10 auch unklar, ob ausgesagt wird, dass das Anziehen des neuen Menschen bereits erfolgt ist, oder ob das Anziehen des neuen Menschen gefordert wird. In 3,12 dagegen wird das Anziehen des neuen Menschen eindeutig gefordert, denn hier findet sich statt eines Partizips ein Imperativ. Sofern in 3,10 ausgesagt wird, dass das Anziehen des neuen Menschen bereits erfolgt ist, ist der Imperativ in 3,12 so zu verstehen, dass bei der Taufe zwar bereits das Anziehen des neuen Menschen erfolgt ist, dieses Anziehen aber zunächst nur theologisch, als Ideal zu verstehen ist und die Praxis hinter der Theologie bzw. dem Ideal her hinkt. Der Imperativ wäre also so zu verstehen, dass die Adressaten nun auch im Hinblick auf das Verhalten den neuen Menschen anziehen sollen. Das Verhalten soll der Theologie, dem Ideal entsprechen.


Die Ehrenbezeichnung „Erwählter“ („eklektos“) kommt allen Menschen zu, die an Jesus Christus glauben. Der Glaube ist das Merkmal der Erwählung. Er erscheint nicht als Willensakt des Menschen, sondern als Folge des Wirkens Gottes, der Menschen zum Glauben erwählt. Wer an Jesus Christus glaubt, sollte sich dem Glauben gemäß verhalten. Was zu diesem Verhalten gehört, darauf geht der Verfasser des Kol in 3,12-17 ein. Die Ausführungen präzisieren, was unter dem "neuen Menschen" zu verstehen ist, den er in 3,5-11 dem "alten Menschen" gegenübergestellt hat.


Paulus bzw. der Verfasser des Kol benutzt den Begriff „Heilige“ im Hinblick auf alle Christen und nicht nur im Hinblick auf besonders herausragende Christen, die Wunder oder andere herausragende Taten vollbringen. „Heilige“ sind nach seinem Verständnis Menschen, die aus dem gewöhnlichen Alltag herausgehoben und dem heiligen Gott Vater und dessen Sohn Jesus Christus zugeeignet sind. Sie befinden sich in deren Macht- und Heilsbereich.


In V. 12-14 nennt der Verfasser des Kol nun fünf Eigenschaften, die den wahrhaft christlich lebenden Menschen auszeichnen.


Das Substantiv "splanchna" ist genau genommen mit Eingeweide/Herzen/Gemüte zu übersetzen, womit die wörtliche Übersetzung von "splanchna oiktirmou" "Eingeweide/Herzen/Gemüte des Erbarmens" lautet. Die Eingeweide galten im antiken Vorderen Orient als Sitz der Gefühle. Heute verbinden wir die Gefühle in unserem Kulturraum in hohem Maße mit dem Herzen. Sowohl die Eingeweide als auch das Herz stehen für das Innerliche. Da der Begriff "innerlich" nicht nur räumlich zu deuten ist, sondern mit den Gefühlen in Verbindung steht und diese ausdrückt, kann "splanchna oiktirmou" mit "inniges Erbarmen" übersetzt werden.


Der Begriff „chrêstotês“ („Rechtschaffenheit“) stellt Eigenschaften eines Menschen dar, dem man eine Sache oder sich selbst anvertrauen kann. Von ihm hat man keine Falschheit oder Schlechtigkeit zu erwarten.


Die Demut (tapeinophrosynê) ist eine Haltung, die Paulus hochschätzt und auch in Kol als eine dem "neuen Menschen" geziemende Haltung erscheint. Gemeint ist ein Verhalten, das den Interessen und dem Ansehen des Mitmenschen besonderes Gewicht gibt und höher erscheinen lässt als die eigenen Interessen und das eigene Ansehen. Ein solches Verhalten schafft und bewahrt Gemeinschaft. Dass Paulus bzw. der Verfasser des Kol die Demut so hochschätzt, ist insofern bemerkenswert, als in der antiken Gesellschaft des Römischen Reiches dem Erwerb von Ehre und Ansehen große Bedeutung beigemessen wurde. Allerdings bewertet der Verfasser des Kol die Demut nicht grundsätzlich positiv. Eine negative Bewertung erfolgt dann, wenn es sich nicht um Demut Christus oder den christlichen Glaubensgenossen gegenüber handelt. So wird in Kol 2,18.23 Demut im Rahmen der Verehrung von Engeln kritisiert.


Unter „prautês“ ist die milde und sanftmütige Freundlichkeit zu verstehen. Voraussetzung für eine solche Freundlichkeit ist die Fähigkeit des Menschen, seine Gefühle zu beherrschen. Auf diese Weise wird er davor bewahrt, seinen Mitmenschen durch gehässige Äußerungen und Zornesausbrüche zu verletzen.


Der Begriff „makrothymia“ ist als Langmut, als nachsichtige Geduld angesichts der Schwächen der Mitmenschen zu verstehen. Eine solche Langmut trägt zum Frieden in der Gemeinde bei, weil sich die Gemeindeglieder untereinander trotz ihrer Schwächen achten. Ein solches Verhalten ist eine Antwort auf den Langmut Gottes, der gegenüber den menschlichen Sünden nachsichtig ist und sie vergibt.


Weiterführende Literatur: M. M. Sokupa 2008, 145-158 befasst sich mit heiligen Personen und Heiligkeit im Kolosserbrief. Kol 1 bekräftige den Status der Heiligkeit in Christus, in Kol 2 kämen weitere Formen der Heiligkeit zur Sprache, und zwar solche, mit denen sich die Christen nicht gemein machen sollten. Kol 3 befasse sich wohl mit der moralischen Heiligkeit als einen Teil des gesamten Themas "Heiligkeit".


R. Canavan 2012 legt dar, dass sich der Verfasser des Kol in 3,1-17 als literarischer Kunstgriff der Bilderwelt der Kleidung bediene, um die Identität der Christengemeinde in Kolossä zu erneuern. Dies geschehe in einem Kontext einer Umwelt, in der sich visuelle Bilder (auf Statuen, Grabmälern und Münzen) von Kleidung und Leib, die Macht und Werte der regierenden Elite darstellten, geradezu aufdrängten. Der schriftliche Gebrauch dieser Bilderwelt beschreibe, wie Mitglieder des Leibes Christi erkannt werden können. Er sei metaphorisch und gehe über die literarische Bedeutung des Anziehens von Kleidung hinaus.


Gemäß A. R. Bevere 2002, 182-224 füge sich die Aufzählung der Laster und Tugenden 3,5-17 in die Argumentation des gesamten Kol ein. Die an die Heiden gerichtete Ermahnung an die Heiden und die Toraobservanz im Judentum (und somit auch seitens der kolossischen Philosophen) teilten da eine ähnliche Perspektive, wo Ethik tatsächlich Theologie ist. Das zeige sich in der durchgängigen Integration der beiden in die Argumentation des gesamten Briefes und auch in der Ermahnung selbst. Die Laster und Tugenden in Kol seien weder einzigartig noch spiegelten sie einfach nur die gängige zeitgenössische Moral wieder. Sie seien auf die Argumentation des Kol bezogen, wobei die Form der Aufzählungen konventionell sei, der Inhalt dagegen jüdische Belange widerspiegele, insbesondere was den Götzendienst und sexuelle Morallosigkeit betreffe. Die Aufzählungen seien nicht nur leicht christianisiert, sondern auf das spezifisch christliche Leben ausgerichtet. Das Ziel christlich-moralischen Lebens sei die Nachahmung Christi (imitatio Christi). Die aufgezählten Tugenden erinnerten an Leben und Lehre Christi, die aufgezählten Laster stünden dem entgegen. Die Aufzählungen hätten eine eschatologische Ausrichtung, sie seien in der eschatologischen Hoffnung verwurzelt - der neuen Schöpfung, wie sie mit der Auferstehung Christi Wirklichkeit geworden sei.


Laut E.-M. Becker 2015, 178-184 biete der Kol eine äußerst differenzierte Sicht auf den paulinischen Begriff der Demut. In Kol 3 werde der paulinische Begriff in einen Katalog von insgesamt fünf Tugenden integriert, neben denen rechte christliche Demut zu stehen komme. In Kol 2 hingegen setze sich der Verfasser kritisch mit dem möglichen Missbrauch der Demut im Blick auf die Befolgung kultischer Forderungen auseinander. Damit greife der Verfasser den frühchristlichen Diskurs über die Ambivalenzen der Demut auf, der schon in Röm 12,16 angeklungen sei.


Gemäß R. Yates 1991, 241-251 fänden sich in Kol 3,1-4,6 drei verschiedene Typen traditionellen katechetischen und ethischen Materials: Laster- und Tugendkataloge, die Haustafel und sprücheartige ethische Aussagen, die als "topoi" bekannt seien. Es gebe guten Grund für die Annahme, dass alle drei Typen vorpaulinisch sind. Sie hätten sich schon im hellenistischen und jüdischen religiösen Leben gefunden, würden in 3,1-4,6 jedoch spezifisch christlich gebraucht.


Laut L. Hartman 1987, 237-247 werde oftmals angenommen, dass es sich bei der Haustafel Kol 3,18-4,1 um eine literarische Einheit handele, die noch vor der Abfassung des Kol formuliert worden sei. Ihr Stil sei von der umgebenden Ermahnung verschieden und der Text ließe sich auch dann noch flüssig lesen, wenn man die Haustafel überspringt. Wenn es sich bei der Haustafel also um eine Entlehnung handelt, von wo ist sie übernommen worden? Was sagt uns die Entlehnung zur Geschichte der frühen Kirche und über ihre Beziehung zur umgebenden Welt? Und schließlich: Welche Funktion hat die Haustafel im Rahmen des gesamten Kol und welche im Hinblick auf die Lage der Adressaten? Ergebnis: Die Tradition, die der Haustafel vorangehenden Ermahnung zugrunde liege, habe vermutlich von Anfang an einen christlichen Sitz im Leben gehabt. Darauf wiesen die Anklänge an Jesu Lehre hin. Aber ihre Deutungen des Dekaloges seien letzten Endes vom Judentum inspiriert. Die listenartige Form sei in jüdischen wie auch in anderen hellenistischen Kreisen weit verbreitet gewesen. Auch die Haustafel stehe in einem Bezug zum Dekalog, allerdings indirekt, auch wenn ihre Parallele im Eph mit Bezug auf einen Teil von ihr das fünfte Gebot zitiere. Allerdings betreffe die Haustafel Menschen in ihren gesellschaftlichen Positionen, d. h. im "Haus". Ihre Ausdrucksweise erinnere an das sog. apodiktische Recht, was an eine ursprünglich jüdische Inspiration denken lasse. Aus diesen Beobachtungen lasse sich bezüglich der Geschichte der frühen Kirche nichts schließen. 3,1-4,6 stelle einen gottgegebenen Kontrast zu menschlichen Vorschriften dar. Über die Funktion der Haustafel (und auch umgebenden Ermahnung) lasse sich nur wenig sagen. Es lasse sich aber erschließen, dass die "Philosophie" den "Standard" nicht für gut genug gehalten und daher gefordert habe, die Gläubigen sollten auch in einem guten Verhältnis zu anderen Mächten neben Jesus Christus stehen und weitere Regeln einhalten. Der Verfasser des Kol habe dagegen den "Herrn" Jesus und den entsprechenden Lebenswandel für gut genug gehalten.


Laut H. Merklein 1981, 194-210 sei Eph 4,1-5,20 als Rezeption von Kol 3,1-17 zu verstehen. Genauer sei diese Rezeption als Transformation zu beschreiben, die sich aus der Verschiebung der Antithetik "irdisch vs himmlisch = christlich" (Kol) zu "heidnisch vs christlich" (Eph) ergebe.


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V. 13


Beobachtungen: Die Partizipien "anechomenoi" ("aushaltend") und "charizomenoi" ("vergebend") sind vom Imperativ "endysasthe" ("zieht aus") abhängig. Insofern können auch beide Partizipien als Imperativ übersetzt werden: "haltet aus" und "vergebt". Diese Übersetzung liegt auch deswegen nahe, weil der Imperativ "brabeuetô" ("regiere") in V. 15 erkennen lässt, dass der gesamte Abschnitt als eine Aufforderung zu verstehen ist. Es ist eben nicht so, dass die Adressaten bereits in befriedigendem Maße einander aushalten oder sich vergeben. Deswegen dürfte hier die übliche partizipiale Übersetzung "die ihr ... aushaltet" und "die ihr ... vergebt" nicht passen. Im Kontext möglich wäre höchstens die Übersetzung "indem ihr ... aushaltet" und "indem ihr ... vergebt" möglich. Dann wäre das gegenseitige Aushalten und Vergeben die Voraussetzung für die Aussagen von V. 12. Tatsächlich dürfte es aber umgekehrt sein: V. 12 ist die Voraussetzung für das Aushalten und das Vergeben. V. 13 konkretisiert, was V. 12 für das Verhalten bedeutet. Vielleicht hat der Verfasser des Kol bei der Abfassung von V. 13 ein ganz bestimmtes Fehlverhalten im Blick, dem ein Teil der Adressaten verfallen ist: Sie beschweren sich übereinander und gebärden sich als Richter, die ihre Glaubensgenossen verurteilen. Dabei lässt der Begriff "momphê" ("Tadel/Vorwurf/Beschwerde") offen, um was für eine Beschwerde es sich handelt.


Eine Präzisierung des Begriffs "Beschwerde" ist auch nicht notwendig, weil es um ein grundsätzliches Verhalten geht, das verschiedene Arten der Beschwerde umfasst. Auch ist nicht entscheidend, ob es sich um eine formal vorgebrachte Beschwerde oder um einen Vorwurf oder Tadel handelt, der in Gesprächen auf den Tisch kommt. Der Verfasser des Kol legt den Schwerpunkt der Aussage auf die Vergebung, die verschiedene Arten der Beschwerden, Vorwürfe und Tadel umfasst.


Die Wichtigkeit der Vergebung wird theologisch begründet, und zwar mit dem - nicht ausdrücklich genannten - Kreuzigungsgeschehen, mit dem die heilvolle Vergebung der Sünden verbunden ist. Der "Herr" könnte die Sünden der Menschen anprangern und schließlich bestrafen. Aber genau das tut er nicht. Aufgrund dieser Vergebung sind aber nun die Christen angehalten, nicht mehr zu sündigen. Ein Freibrief für jegliches Verhalten ist die Vergebung seitens des "Herrn" nicht. So erklärt sich der mahnende Charakter des Abschnittes V. 12-17.

Das Verb "charizomai" ("vergeben") lässt erkennen, dass es sich bei der Vergebung um eine freiwillige Handlung, um eine Gnade (charis) handelt. Die Person, der die Vergebung zuteil wird, hat sich diese nicht verdient. Das gilt auch für die Christen, die sich die Vergebung ihrer Sünden durch den "Herrn" nicht verdienen, sondern diese aus Gnade empfangen. Die Christen sollen sich am Verhalten des "Herrn" ein Vorbild nehmen.


Der Titel „Herr“ gibt ein Herrschaftsverhältnis an: Der „Herr“ herrscht über seine Diener/Sklaven, die ihm bedingungslos zu dienen haben. Im Römischen Reich galt der Sklave als Sache. Der „Herr“ konnte also am Sklaven Willkür walten lassen. Allerdings erscheint Jesus Christus bzw. Gott - hier ist wohl Gott gemeint - nicht als ein willkürlicher „Herr“, sondern vielmehr als einer, der seinen Sklaven für ihren Dienst Heil zukommen lässt. Der Sklave/Diener Jesu Christi bzw. Gottes gehört also zu den sozial privilegierten Sklaven/Dienern. Der Aspekt der Gegenseitigkeit, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist, spielt eine entscheidende Rolle: Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten) Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi bzw. Gottes, dem sie untergeben sind und dienen.


Weiterführende Literatur: Mit der besonderen Bedeutung der Partizipien in der argumentatio Kol 1,24-4,1 befasst sich unter syntaktischen und rhetorischen Gesichtspunkten L. Giuliano 2013, 293-317. Ihnen komme bei der Fortentwicklung des Gedankengangs eine entscheidende Rolle zu. Im ersten Abschnitt 1,24-2,5 konzentriere sich das wiederholte Auftreten der Partizipien insbesondere auf die Person des Apostels Paulus. Im zweiten Abschnitt 2,6-23 verschiebe sich der Schwerpunkt hin zu Christus und den Gläubigen. In Kol 3,1-4,1 würden Partizipien in erster Linie im Rahmen von ethischen Ermahnungen gebraucht.


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V. 14


Beobachtungen: Die Formulierung "epi pasin" kann mit "zusätzlich zu dem allem" oder mit "über das alles" übersetzt werden. Erstere Übersetzung würde die Liebe wie eine weitere, vielleicht herausragende Tugend neben den in V. 12 genannten erscheinen lassen. Man könnte die "Liebe" als Nächstenliebe oder als romantische Liebe, die einer Partnerschaft zugrunde liegt, deuten. Das Bild des Anziehens legt aber - ebenso wie die Rede von einem "Band der Vollkommenheit" - eine andere Deutung nahe: Es geht um das Anziehen eines Gewandes, wobei die Liebe das Obergewand darstellt, das über das Untergewand der bereits in V. 12 genannten Tugenden gezogen wird. Es geht dabei aber wohl nicht darum, dass sie anderen Tugenden überdeckt werden. Vielmehr dürfte die besondere Bedeutung der Liebe und ihr umfassender Charakter im Blick sein, außerdem der Aspekt der Einheit und Heiligkeit. Die Liebe stellt also die entscheidende Grundhaltung dar, in der der Christ lebt bzw. leben sollte. Vermutlich ist hier an die Liebe Gottes als Vorbild gedacht, denn in V. 12 werden die Adressaten als "Geliebte" bezeichnet. Natürlich ist es sicherlich auch der Verfasser des Kol, der den Adressaten zugeneigt ist, jedoch dürfte dem Begriff darüber hinaus eine gewichtige theologische Bedeutung zukommen: Aus der Liebe heraus lässt Gott den Menschen die Gnade der Sündenvergebung zukommen.

Inwiefern ist die Liebe ein Band? Was bindet sie zusammen? Zunächst einmal dürften es die in V. 12 genannten Tugenden sein, die zusammengebunden werden. Die Liebe ist also das, was sämtliche Tugenden prägt und in dieser gemeinsamen Prägung vereint. Darüber hinaus verbindet die Liebe die Christen, die konkrete Gemeinde und auch die Kirche als Gesamtheit. Gegenseitige Vorwürfe und Beschwerden sind Folge von Zwietracht und verschärfen diese, womit die Einheit der Christen, der konkreten Gemeinde und der Kirche als Gesamtheit gefährdet wird. Das gegenseitige Aushalten und Vergeben vermag dagegen zwischen den Gräben Brücken zu bauen und Einheit zu stiften.


Der Begriff "Vollkommenheit" ist im Lichte der Sündenvergebung, Heiligkeit und Liebe zu verstehen. Gott ist an allererster Stelle derjenige, der Sünden vergibt, heilig ist und liebt. Den Christen werden aufgrund des gnadenvollen Handelns Gottes die Sünden vergeben, sie werden Heilige und sind Geliebte. Die Christen sollen nach dem Vorbild Gottes handeln und ebenfalls vergeben, ihre Glaubensgenossen als Heilige behandeln und sie lieben. Die Vollkommenheit Gottes und seines Handelns ist Vorbild für die Vollkommenheit der Christen und ihres Handelns. Und schließlich ist auch die in Liebe geeinte Gemeinde bzw. Kirche vollkommen. Zwischen der Vollkommenheit und dem Gewand besteht durchaus eine enge Verbindung. So findet bei der Taufe ein rein weißes Gewand Verwendung, das den "neuen Menschen" in seiner Unbeflecktheit, in seiner Vollkommenheit vor Augen führt.


Weiterführende Literatur: M. Grosso 2011, 3 deutet die v. a. vom sog. Westlichen Text gebotene Variante, die "Band der Einheit" ("syndesmos tês enotêtos") statt "Band der Vollkommenheit" ("syndesmos tês teleiotêtos") bietet: Sie rufe die Vorstellung der ursprünglichen Einheit von männlich und weiblich im ungeteilten Wesen, das nach dem Bilde Gottes geschaffen sei und Vorbild der Vollkommenheit geworden sei, in Erinnerung (zu männlich und weiblich siehe auch Kol 3,11). Diese Vorstellung werde von einer ganzen Reihe christlicher Quellen geteilt.


V. 15


Beobachtungen: „Friede (des) Christi“ kann hier als genitivus subiectivus oder als genitivus originis verstanden werden, d. h. es handelt sich entweder um einen Frieden, der Christus eigen ist, oder um einen Frieden, der von Christus stammt. Vermutlich sind beide Bedeutungen hier in Verbindung zu sehen.

Als Hintergrund des Friedens ist wohl das Versöhnungsgeschehen von Kreuzestod Christi und Auferstehung zu sehen, durch das Gott die Menschen mit sich versöhnt und so Frieden zwischen Gott und Mensch geschaffen hat. Das vergebende und Frieden schaffende Handeln Gottes soll Vorbild für das Handeln der Adressaten sein, so dass in deren Herzen der Friede regiert und auch Friede zwischen den Adressaten geschaffen wird. Dass nicht vom "Frieden (des) Gottes", sondern vom "Frieden (des) Christi" die Rede ist, dürfte an der christuszentrierten Theologie des Verfassers des Kol liegen. Für den Frieden ist demnach das mit Christus verbundene Heilsgeschehen entscheidend. Eine Variante ersetzt jedoch "Christus" durch "Gott" und gleicht so an den üblichen Sprachgebrauch der echten paulinischen Briefe an (vgl. Phil 4,7; in 1 Thess 5,23; 2 Kor 13,11; Röm 15,33; 16,20 und Phil 4,9 ist vom "Gott des Friedens" die Rede, außerhalb der paulinischen Briefe auch in Hebr 13,20).


Das Verb "brabeuô" bedeutet "Kampfrichter sein", "entscheiden" oder "herrschen". Es klingt also ein sportlicher Wettkampf an. Als ein solcher sportlicher Wettkampf wird wohl das Leben des Christen gesehen. Es gilt in diesem Wettkampf zu siegen. Der Kampfrichter ist derjenige, der die Einhaltung der Wettkampfregeln überwacht und am Ende festlegt, wer gewonnen hat. Dieser über den Wettkampf "herrschende" Kampfrichter soll der Friede sein. Der Friede soll also die Maßgabe des christlichen Lebens sein. Und nur wer Frieden übt, kann am Ende "siegen".


Dass unter den Christen Friede herrschen soll, stellt der Verfasser des Kol nicht als eigene Meinung dar, sondern als den Willen Gottes bzw. Jesu Christi. Die Christen sind dazu berufen, wobei der nicht genannte Berufende Gott oder (auch) Jesus Christus sein dürfte. Die Berufung macht deutlich, dass der Friede nicht der Lust und Laune unterworfen sein darf, sondern ein wesentliches Merkmal christlichen Lebens sein soll.


Mit dem "Leib" dürfte die Kirche gemeint sein, deren Haupt Christus ist (vgl. 1,18). Die Betonung, dass es ein Leib ist, unterstreicht die Notwendigkeit von Vergebung, Frieden und Eintracht. Diese Notwendigkeit betrifft sowohl die einzelne Gemeinde als auch die gesamte Kirche - die gesamte Kirche sowohl hinsichtlich des Lebens in allen einzelnen Gemeinden als auch hinsichtlich des Verhältnisses aller Gemeinden untereinander.


Wie ist das "in" zu verstehen, was ist also mit "in einem Leib" gemeint? Verschiedene Deutungen sind möglich: Es könnte der Ort, der Raum der Berufung gemeint sein, womit die Berufung zum Frieden Christi - die Adressaten sind Erwählte! (vgl. V. 12) - "in einem Leib" geschehen wäre. Das würde aber bedeuten, dass die Berufung erst nach dem Beitritt zur Gemeinschaft der Christen, nach dem Eintritt in den "Leib", erfolgt ist. "Heilige" und "Geliebte" sind die Menschen jedoch sofort mit dem Beitritt bzw. Eintritt. Auch die Erwählung ist sicherlich nicht erst nach dem Beitritt bzw. Eintritt erfolgt, sondern sie ist dessen Grundlage. Dementsprechend dürfte auch die Berufung zum Frieden Christi nicht erst nach dem Beitritt bzw. Eintritt, sondern mit diesem erfolgt sein, vielleicht auch mit der Erwählung. Insofern ergibt die räumliche Deutung hier wenig Sinn. Passender ist die Deutung, dass "in einem Leib" im Sinne von "durch den Beitritt zum einen Leib" oder "aufgrund des Beitrittes zum einen Leib" zu verstehen ist. Ebenfalls kann gemeint sein, dass die Christen als Glieder des einen "Leibes" zum Frieden Christi berufen sind. Und schließlich ergibt auch die Deutung Sinn, wonach das Ziel ausgesagt werde: Zum Frieden Christi berufen, damit der "Leib" einer ist und nicht im Zank in mehrere Teile zerfällt.


Die Formulierung "Und werdet dankbar!" macht deutlich, dass noch nicht alle Adressaten dankbar sind, es aber werden sollen. Der Grund für die Dankbarkeit wird zwar nicht genannt, lässt sich aber aus dem Frieden erschließen. Der Friede hat nämlich seine theologische Begründung im Versöhnungsgeschehen von Kreuzestod Christi und Auferstehung. Gott hat durch Jesus Christus sozusagen vorbildlich gehandelt und durch Vergebung Friede zwischen sich und den Menschen - konkret: Christen - geschaffen (vgl. V. 13). Dafür sollen die Christen dankbar sein. Und die Dankbarkeit soll sich im eigenen Verhalten zeigen. Die Dankbarkeit ist dabei nicht das Verhalten an sich, sondern die Grundhaltung, die dem Verhalten zugrunde liegen soll.


Weiterführende Literatur: Im Kol werde gemäß A. de Oliveira 1999, 72-103 hervorgehoben, was sich in den unumstrittenen Paulusbriefen durchgängig auspräge: "die Bindung des Christen an Christus, durch die Christus zum Mittelpunkt des christlichen Lebens wird". Im Kol sei nicht nur der Inhalt, sondern auch die literarische und rhetorische Disposition des Briefes davon bestimmt. Durch die Passagen, die mit einem bis dahin unbekannten Nachdruck von Christus als dem göttlichen Herrscher sprechen, sei die gesamte Argumentation des Briefes so aufgebaut, dass man von einer Christozentrik auch in literarischer und pragmatischer Perspektive sprechen könne. Dies zeige die gebotene, überwiegend synchrone Analyse der literarischen und rhetorischen Struktur des Briefes. Der Analyse schließt sich eine Darstellung der verschiedenen Bereiche der Christozentrik an, die vom Sitz im Leben des Briefes ausgehend speziell das Verhältnis zu den paulinischen Zeugnissen berücksichtigt.

Mit dem christlichen Leben gemäß dem Kol befasst sich H. W. House 1994, 440-454. Zu 3,12-4,6: Das neue Leben der Christen, das ja auf ihren Status "in Christus" gegründet sei, bedeute, dass jede Beziehung und jede Aktivität nach dem Modell Christi erfolgen soll.


Mit dem "Leib" im Kol befasst sich J. D. G. Dunn 1994, 163-181. Folgende fünf Bedeutungen kämen dem "Leib" zu: a) der Leib, die Kirche (1,18.24; 2,19; 3,15; S. 164-167); b) der fleischliche Leib (1,22; 2,11.23; S. 167-173); c) der kosmische Leib (1,18 ursprüngliche Fassung; 2,9; S. 173-177); d) der eschatologische Leib (2,17; S. 177-178); e) der Leib Christi (S. 178-181). Die ersten vier Bedeutungen seien im Zusammenhang zu sehen, überlappten sich und ergäben zusammen eine Theologie des Leibes Christi.


Zur Wettkampfmetaphorik siehe B. Heininger 2009, 65-73.


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V. 16


Beobachtungen: Die Formulierung "Wort (des) Christi" ist vermutlich bedeutungsgleich mit "Wort (des) Gottes" und "Evangelium (des) Christi". Gemeint ist das Evangelium, das Christus zum Inhalt hat, vielleicht auch von ihm stammt. Dass der Verfasser des Kol an dieser Stelle nicht vom "Wort (des) Gottes" spricht, sondern vom "Wort (des) Christi", lässt sich mit seiner vollständig christuszentrierten Theologie erklären. Die Formulierung ist ungewöhnlich und Schreiber sind über sie gestolpert und haben sie korrigiert: Einige Textzeugen verbessern zu "Wort des Herrn", andere zu "Wort (des) Gottes".


Lehre und Ermahnung sind gemäß dem Verfasser des Kol nicht Sache ausgewählter Lehrer, sondern Sache aller Gemeindeglieder. Zur Lehre und Ermahnung befähigt werden sie durch die Weisheit. Mit der "Weisheit" ist hier nicht menschliche Klugheit, auch nicht eine kluge Theorie oder geistreiche Philosophie gemeint. Die Weisheit dürfte geistlicher Art und mit geistlicher Einsicht verbunden sein (vgl. 1,9). Die Lehre ist also nicht einfach nur von den Gemeindegliedern ersonnenes kluges Gedankengut, sondern rechte Belehrung über Jesus Christus und das mit diesem verbundene Heilsgeschehen und vermutlich auch das ihm entsprechende rechte Verhalten. Die Gemeindeglieder sind zu dieser Lehre ebenso befähigt wie Paulus bzw. der Verfasser des Kol (vgl. 1,28), vorausgesetzt, sie sind von Weisheit erfüllt. Um diese Erfüllung betet und bittet der Verfasser des Kol (vgl. 1,9).


Der Verfasser des Kol nennt in V. 16 drei Arten von Liedern: psalmoi, hymnoi und ôdai pneumatikai. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint der Sachverhalt klar zu sein: psalmoi sind Psalmen, wie sie sich im AT finden, hymnoi sind Loblieder und ôdai pneumatikai geistliche Lieder, die nicht zu den atl. Psalmen, aber auch nicht zu den Lobliedern gehören. Bei genauerem Hinsehen gestaltet sich der Sachverhalt aber schwieriger:

So ist fraglich, ob es sich bei den „psalmoi“ tatsächlich um atl. Psalmen handelt. Der griechische Begriff scheint zwar darauf hinzuweisen, doch bedeutet er nichts weiter als „Lieder“, konkret: „Loblieder“. Diese können - dem atl. Psalm entsprechend - mit oder ohne Gesangsbegleitung auf einem Saiteninstrument gezupft oder auch unbegleitet gesungen werden. Sie können verständlich sein, aber auch unverständlich. In ersterem Fall würden sie den heutigen Kirchenliedern ähneln, in letzterem Fall (wie vermutlich in 1 Kor 14,15) der Zungenrede. Sie können lobpreisenden Charakter haben oder/und einem Gebet entsprechen. Der genaue Charakter der Lieder lässt sich also nicht sicher bestimmen. Damit bleibt auch offen, ob der Verfasser des Kol die uns bekannten atl. Psalmen oder andere, frühchristliche Lieder im Blick hat. Es ist auch möglich, dass die Christen es nicht bei den atl. Psalmen beließen, sondern auch neue schufen.

Auch bei den "hymnoi" handelt es sich um "Loblieder". Können diese deutlich von den "psalmoi" abgegrenzt werden oder ist die Abgrenzung unscharf? Eine deutliche Abgrenzung wäre, dass es sich bei den "hymnoi" um Loblieder handelt, die nicht zu den atl. Psalmen gehören. Verschwimmen tun die Grenzen aber, wenn man annimmt, dass neu geschaffene Psalmen nicht als "psalmoi" verstanden werden, sondern als "hymnoi". Dann würden nicht alle Psalmen als "psalmoi" bezeichnet, sondern nur diejenigen, die sich im AT finden. Eine klare Abgrenzung wäre ebenfalls nicht möglich, wenn man annimmt, dass "hymnoi" ein Oberbegriff für alle Loblieder ist, die Betonung also auf dem Lob liegt. In der griechischen Welt kann das Lob allen möglichen Göttern und Helden zukommen, wobei im Kol sicher das Lob des Gottes der Juden und Christen und/oder das Lob Jesu Christi im Blick ist. Auch unter den Psalmen finden sich Loblieder, so dass Psalmen zugleich "psalmoi" als auch "hymnoi" sein können. Der Begriff "psalmoi" könnte mehr auf die Form des Liedes oder auf die Verankerung des Liedes in der hebräischen Bibel (= AT) anspielen, der Begriff "hymnoi" dagegen mehr auf den lobpreisenden Inhalt.

Bei den "ôdai" handelt es sich um "Lieder". Dabei bleibt offen, um was für Lieder es sich handelt. Das Adjektiv "pneumatikai" sagt nur aus, dass diese Lieder geistlich, also vom heiligen Geist bewegt, sind. Geistlich dürften allerdings auch die "psalmoi" und "hymnoi" sein. Dementsprechend kann sich das Adjektiv "pneumatikai" auch auf "psalmoi" und "hymnoi" beziehen. Das Adjektiv steht im Dativ ("pneumatikais"), was zu den drei Dativen "psalmois", "hymnois" und "ôdais" passt. Die feminine Form passt nur zu "ôdais", nicht aber zu den Maskulina "psalmois" und "hymnois". Daraus lässt sich aber nur schließen, dass sich "pneumatikais" auf jeden Fall auf das unmittelbar vorhergehende Wort "ôdais" bezieht, mit dessen femininem Geschlecht es übereinstimmt. Ob es sich darüber hinaus auch auf "psalmois" und "hymnois" bezieht, bleibt offen. Gerade die Tatsache, dass bei den "psalmoi" und "hymnoi" eigentlich ohne nähere Bestimmung klar ist, dass es sich um geistliche Lieder handelt, lässt einen Bezug nur auf "ôdais" wahrscheinlicher erscheinen. Doch was sollen diese "geistlichen Lieder" sein? In der griechisch-römischen Welt bezeichnet der Begriff "ôdê" ein lyrisches oder poetisches Liedstück, das von einem Musikinstrument begleitet werden kann. Erneut stellt sich die Frage, ob der Verfasser des Kol deutlich abgrenzt oder ob es sich nicht vielmehr um eine unscharfe Abgrenzung handelt. Deutlich wäre die Abgrenzung, wenn es sich bei den "geistlichen Liedern" um geistliche Lieder handelt, die weder zu den Psalmen noch zu den Hymnen gehören. Dann würde sich die Frage aufdrängen, ob die Oden von einer bestimmten Form geprägt sind, also z. B. in Reimform verfasst, mit einem bestimmten Versmaß. Ebenso wäre zu fragen, ob diese Oden verständlich sind oder nicht. Aus Apg 2,1-4 und 1 Kor 14,15 geht hervor, dass sie durchaus wie Zungenrede unverständlich sein können. Unscharf wäre die Abgrenzung der "ôdai pneumatikai" von den "psalmoi" und "hymnoi", wenn es sich bei den "ôdai pneumatikai" ganz allgemein um geistliche Lieder handelt, die Betonung also auf der Geistbewegtheit liegt. Dann wäre auch ein zweimaliger begrifflicher Übergang vom Konkreten zum Allgemeinen zu erkennen, bei zweimaliger Verschiebung des Schwerpunktes. Am konkretesten wären die "psalmoi", die nur atl. (und vielleicht auch noch weitere) Psalmen umfassen. Die "hymnoi" wären Loblieder, die auch über die Psalmen hinausgehen können. Und die "ôdai pneumatikai" wären geistliche Lieder im weiten Sinn, zu denen aber auch die "psalmoi" und "hymnoi" gehören.


"En chariti" ist wörtlich mit "in/mit Gnade" oder "in/mit Dankbarkeit" zu übersetzen. Die Adressaten befinden sich als Christen in einem Zustand der Gnade. Aber ist diese hier im Blick? Warum sollte der Verfasser die Gnade so betonen, wo er doch genauso gut schreiben könnte: "... singt (dem) Gott aus (eurem) [vollem] Herzen"? Wahrscheinlicher ist, dass der Begriff "charis" hier "Dankbarkeit" bedeutet, denn zu dieser hat der Verfasser in V. 15 aufgefordert. Dankbarkeit dürfte die Grundhaltung sein, in der gesungen werden soll. Die Adressaten sollen also Gott nicht nur aus vollem Herzen singen, sondern sie sollen dies dankbar tun.

"En tais kardiais hymôn" ist wörtlich mit "in euren Herzen" zu übersetzen. Es könnte folglich gemeint sein, dass die Adressaten mit Dankbarkeit in ihren Herzen singen sollen. Die Herzen wären als ein von Dankbarkeit gefüllter Raum oder gefülltes Gefäß gedacht. Man kann "in euren Herzen" auch so deuten, dass in diesen der Gesang erfolgt. Es würde sich dann um einen stillen, innigen Gesang handeln. Angesichts der Tatsache, dass V. 12-17 die Gegenseitigkeit und die Gemeinschaft, die Einheit, betont, ist diese Deutung jedoch nicht wahrscheinlich. Eher ist von einem gemeinschaftlichen, mindestens hörbaren Gesang auszugehen. Und dieser hörbare, möglicherweise gemeinschaftliche Gesang soll vielleicht nicht nur dankbar sein, sondern auch von Herzen oder aus tiefstem Herzen kommen. Bei dieser Deutung würden die Herzen die Überzeugung und Begeisterung ausdrücken, mit der der Gesang erfolgen soll. Die Übersetzung kann also "von (euren) Herzen", "aus (eurem) [vollem] Herzen" oder "aus (eurem) [tiefstem] Herzen" lauten. Letztere Übersetzung bringt zusätzlich zur Begeisterung wieder das Herz als Raum oder als ein Gefäß ins Spiel. Dieser bzw. dieses ist mit Dankbarkeit gefüllt, also voll von Dankbarkeit.


Weiterführende Literatur: F. S. Malan 1998, 515-517 geht im Rahmen seiner Abhandlung über Kirchengesang in den paulinischen Briefen auf den Hymnus Kol 3,16 ein. Er geht davon aus, dass die Adressaten des Kol einander mit vom Geist bewegten Psalmen, Lobgesängen und Liedern lehren und ermahnen sollen. Die Liedarten ließen sich nicht scharf trennen. Bei den "Psalmen" handele es sich um Loblieder, bei den "Hymnen" um Lieder mit religiösem Inhalt und bei den "Liedern" um Lieder mit Text, die einem bestimmten melodiösen Schema folgen.


Laut S. Geiger 2012, 53-57 stellt sich die Frage, ob in 3,16 "psalmois hymnois ôdais pneumatikais" ("mit Psalmen, Lobgesängen, geistlichen Liedern") zu den Partizipien "didaskontes" ("lehrend/lehrt!") und "nouthetountes" ("ermahnend/ermahnt!") gehört oder nicht vielmehr mit dem Partizip "adontes" ("singend/singt!") zu lesen ist. Kurz: Sagt Paulus, dass das Lehren und Ermahnen im Rahmen der Psalmen, Lobgesänge und geistlichen Lieder geschehen soll, oder trennt er das Lehren und Ermahnen von den musikalischen Elementen? Viele Bibelübersetzer und Exegeten folgten der Ausgabe des NT von Nestle-Aland (27. Aufl.), die nach "heautous" ("einander") ein Komma setzt und damit das Lehren und Ermahnen von den musikalischen Elementen trennt. Die Trennung sei jedoch nicht richtig. Die Wortfolge, die Rolle des Dativs und die Parallele Eph 5 ließen zu dem Schluss kommen, dass die Dative "psalmois hymnois ôdais pneumatikais" zu den Partizipien "didaskontes" und "nouthetountes" gehören. Die Musik erscheine also als Mittel der Lehre und Ermahnung.

D. F. Detwiler 2001, 347-369 geht den syntaktischen Problemen in Kol 3,16 nach und fragt danach, wie sich die verschiedenen Elemente des Verses aufeinander beziehen, wobei er die verschiedenen Übersetzungen und Meinungen diskutiert. Ergebnis: "Mit Psalmen, Lobgesängen, geistlichen Liedern" seien auf die Partizipien "didaskontes" und "nouthetountes" zu beziehen. Das bedeute nicht, dass die Lehre und Ermahnung nur mit diesen musikalischen Elementen erfolgen können, aber christliche Lieder seien in dieser Hinsicht von großer Bedeutung. Die Formulierung "en tais kardiais hymôn" ("in euren Herzen") sei mit dem unmittelbar vorausgehenden Partizip "adontes" ("singend/singt!") zu lesen. Es müsse also heißen: "singend/singt in euren Herzen". Damit sei nicht gemeint, dass das Singen im Herzen verbleiben soll, also Paulus stillen Lobpreis favorisiert, sondern es werde unterstrichen, dass wahrer Lobpreis seinen Ursprung im Herzen hat und ein Ausdruck der ganzen Persönlichkeit ist. Der Gesang diene also der Belehrung und Ermahnung der Gemeindeglieder untereinander und sei mit dem ganzen Herzen in der Gnade (Gottes) an Gott gerichtet.


C. N. Huizenga 1980, 746-748 nennt vier wesentliche Aspekte des von Paulus in V. 16 erwähnten - sämtlich von C. N. Huizenga als Lobpreis verstandenen - Gesangs: Erstens habe der Lobpreis eine zweifache Inspiration, nämlich zum einen die beständige Erfüllung des Gläubigen durch den heiligen Geist und zum anderen das reiche Wohnen des Wortes in seinem Herzen. Zweitens thematisiere Paulus nur die Haltung und Motivation der Sänger und den geistlichen Inhalt ihres Lobpreises, sage aber nichts über musikalische Stile, Formen oder Begleitungen aus. Das sei aber kein Blankoscheck für jeden beliebigen Musikstil, sondern die Musik solle zum biblischen Text passen und ihn bestärken. Drittens verstehe Paulus den Lobpreis als dankbare Antwort auf Gottes Gnade. Viertens sei der Gedanke der musikalischen Gemeinschaft zu erkennen. Die ganze Gemeinde habe Anteil am Gesang und könne aktiv sein; er sei also Sache der ganzen Gemeinde und nicht nur einer Elite.


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V. 17


Beobachtungen: Der Verfasser des Kol konkretisiert nicht, was er mit "Wort[en]" und "Werk[en]" meint. Das lässt sich leicht erklären: Es geht ihm nicht um ganz bestimmte Worte oder Werke, sondern "Wort" und "Werk" stehen zusammen für die Gesamtheit des Redens und Handelns. Das gesamte Reden und Handeln soll im Namen des Herrn Jesus geschehen.


In V. 16 wird ausdrücklich Jesus als "Herr" bezeichnet, wogegen in V. 13 offen geblieben ist, ob Gott oder Jesus der Herr ist. Bedeutet die ausdrückliche Nennung Jesu als Herr in V. 16 nun, dass auch in V. 13 mit dem Herrn Jesus gemeint sein muss? Das ist nicht anzunehmen. Es geht nämlich nicht um ein Entweder - Oder, d. h. es können auch Gott und Jesus gleichermaßen Herr sein. Das ist wie folgt zu erklären: Der Gedanke, dass der Gott Israels der Herr und somit maßgeblich für den Glauben und das Verhalten der Gläubigen ist, ist aus der hebräischen Bibel (= AT) übernommen. Insbesondere in Zitaten und in Passagen, die sich auf die hebräische Bibel, die ja auch für den christlichen Glauben relevant ist, beziehen, erscheint Gott als Herr. Sobald es aber um spezifisch christliche Glaubensinhalte und Verhaltensregeln geht, wird Jesus Christus als Herr bezeichnet. Dieser ist für den Glauben und das Verhalten der Christen maßgeblich. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf V. 16, wo ja ausgesagt wird, dass alles im Namen Jesu geschehen solle.

Die Bedeutung von "im Namen des Herrn Jesus" - die Formulierung "im Namen des Herrn" ist eine aus dem AT bzw. der Septuaginta übernommene Formulierung - geht sicherlich über die Bedeutung "bei Anrufung des Herrn" hinaus, denn die Gesamtheit des Redens und Handelns ist nicht auf den liturgischen Rahmen der Gottesdienste beschränkt. Und dass der Herr Jesus bei allem Reden und Handeln angerufen werden soll, ist eher unwahrscheinlich. Es geht dem Verfasser des Kol nicht um Anrufung, sondern um den entscheidenden Verhaltensmaßstab, den Jesus Christus darstellt.


Das Partizip "eucharistountes" ist ein Präsens und drückt Gleichzeitigkeit aus. Die wörtliche Übersetzung lautet somit "dankend". Das Danken ist kein Reden und Tun im eigentlichen Sinne, sondern die Grundhaltung, die dem Reden und Tun zugrunde liegen soll.


Die Formulierung "durch ihn", d. h. "durch Jesus", ist sicherlich wie die Formulierung "im Namen des Herrn Jesus" nicht auf die Anrufung zu beschränken. Es geht also nicht darum, dem Gott Vater zu danken, indem man Jesu Namen anruft. Des Weiteren ist zu beachten, dass auch nicht gemeint ist, dass Gott Vater wegen Jesus gedankt werden soll. Die Präposition "dia" kann zwar mit "wegen" übersetzt werden und den Grund bezeichnen, jedoch folgt ihr dann ein Akkusativ. In V. 17 folgt dagegen ein Genitiv, womit die Übersetzung "durch" lautet. Jesus erscheint also als ein Mittler. Doch wie haben wir uns die Vermittlung vorzustellen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es nicht um Gebet und Liturgie geht, sondern um das gesamte Reden und Handeln. Es geht also nicht darum, dass eine direkte Anrufung Gottes oder ein direktes Gebet zu Gott unmöglich sei. Entscheidend dürfte sein, dass Gott Vater zwar der Dank gebührt, jedoch Jesus Christus und das mit ihm verbundene Heilsgeschehen für das Verhalten der Christen maßgeblich ist. "Durch Jesus" dürfte demnach "durch ein an Jesus ausgerichtetes Reden und Handeln" meinen. Es ist also unmöglich Gott zu danken, ohne sich Jesus als Maßstab für das Reden und Handeln zu nehmen. Wer sich wie die Irrlehrer in Verehrung von Engeln gefällt (vgl. 2,18) und sein Leben nicht an Jesus ausrichtet, kann folglich Gott nicht dankbar sein.

Gott und Jesus Christus sind nicht voneinander zu trennen. Beide können als "Herr" bezeichnet werden und Jesus Christus kann anstelle Gottes genannt werden: "Friede Christi" (statt: "Friede Gottes"); "Wort Christi" (statt: "Wort Gottes"). Das Heilsgeschehen geht auf den Willen Gottes zurück, ebenso Jesus Christus selbst. Er ist nicht geschaffen, sondern gezeugt. Er ist gemäß 1,15 "Abbild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener der ganzen Schöpfung". Gott ist der Vater, Jesus Christus dessen Sohn. Von einer Mutter ist hier nicht die Rede. Gott ist in 3,17 also männlich gedacht, Maria kommt nicht in den Blick. Die Männlichkeit mag damit zu begründen sein, dass Jesus ein Mann war. Wenn er "Abbild des unsichtbaren Gottes" ist, kann man das Abbild auch auf das männliche Geschlecht beziehen. Allerdings ist davon auszugehen, dass es dem Verfasser des Kol nicht in erster Linie um das Geschlecht Gottes, sondern um die enge Beziehung zwischen Gott und Jesus Christus geht. Diese drückt sich in der Vater-Sohn-Vorstellung aus. Dass diese Vorstellung bereits einen Bestandteil einer ausgefeilten Trinitätslehre darstellt, ist nicht zu erkennen. "Gott Vater" kann sich neben dem innigen Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus auch auf das Verhältnis Gottes zu den Menschen beziehen: Gott ist der Vater der Christen, die somit dessen Kinder sind (vgl. 1,2).


Einige Textzeugen bieten "dem Gott und Vater" statt "dem Gott Vater". Dabei könnte es sich um eine Anpassung an Eph 5,20 und vielleicht auch 1 Kor 15,24 und Phil 4,20 handeln.


Weiterführende Literatur: Ein Leben "im Namen des Kyrios (= Herrn) Jesus" schließe laut A. Ruck-Schröder 1999, 95-97 Folgendes ein: Die Gemeinde handele in Entsprechung dazu, dass sie in den Herrschaftsbereich Christi überführt ist. Die Mittlerschaft Jesu schlage sich im konkreten Handlungsvollzug der Gemeinde nieder. Die Gemeinde berufe sich in ihrem Loben und Danken Gott gegenüber auf Jesus Christus und benenne ihn; sie könne dies, weil sie durch Jesus Christus dazu befähigt sei.


M. Buscemi 2001, 247-269 geht der Bedeutung der Formulierung „Gott Vater“ in den paulinischen Briefen nach. Zunächst widmet er sich dem Gebrauch des Begriffes „Vater“ in den paulinischen Briefen, dann legt er dar, inwiefern Gott „Vater“ Jesu Christi, der Schöpfung und der Christen ist. Zuletzt werden die Heilstaten des „Vaters“ für die Menschheit unter die Lupe genommen. Grundsätzlich sei Gott der „Vater“. Stehe also „Vater“ allein, so sei Gott gemeint. Das Vater-Sohn-Verhältnis zu Jesus Christus mache eine innige Beziehung zwischen beiden deutlich. Zudem sei Jesus Christus Grund und Mittler des gnadenhaften Heils, das Gott den Menschen zugedacht hat. Durch das erlösende Heilshandeln Christi würden die Gläubigen zu „Gotteskindern“. Auch sei Gott „Vater“ seiner gesamten Schöpfung.



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