Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Apostelgeschichte (9-12)

Die Anfänge der Heidenmission

Apg 9,3-9

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Apg 9,3-9

 

 

Übersetzung

 

Apg 9,3-9:3 Als er unterwegs war, geschah es, dass er sich Damaskus näherte. Und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht aus dem Himmel; 4 und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: "Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ 5 Er aber sprach: "Wer bist du, Herr?“ Er aber [sprach]: "Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Doch steh auf und geh in die Stadt, und es wird dir gesagt werden, was du tun sollst.“ 7 Die Männer aber, die mit ihm reisten, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. 8 Saulus aber richtete sich von der Erde auf. Als sich aber seine Augen öffneten, sah er nichts. Da nahmen sie ihn an der Hand und führten ihn nach Damaskus hinein. 9 Und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht.

 

 

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V. 3

 

Beobachtungen: Mit "er“ ist Saulus (= Paulus) gemeint. Saulus reiste (von Jerusalem?) nach Damaskus, um dort Anhänger Christi aufzuspüren und gefesselt nach Jerusalem zu führen (vgl. V. 1-2).

 

Damaskus war eine bedeutende Handelsstadt im heutigen Syrien, die seit der Eroberung durch Pompeius 64 v. Chr. zum Römischen Reich gehörte, und zwar zur kaiserlichen Provinz Syria. Als Bestandteil der Dekapolis − ein Bund von etwa zehn (die Zahl schwankte im Laufe der Geschichte geringfügig) griechisch geprägten Städten vorwiegend im mittleren und nördlichen Ostjordanland − genoss Damaskus Sonderrechte und eine weit gehende Unabhängigkeit. In Damaskus gab es zur Zeit des Saulus einen starken jüdischen Bevölkerungsanteil (vgl. Ios. Bell. 2,561; 7,368) und eine starke nabatäische Handelskolonie. In irgendeiner Form scheinen die Nabatäer auch politische Macht ausgeübt zu haben, denn in 2 Kor 11,32 ist von einem in Damaskus ansässigen Ethnarchen die Rede, der wohl kaum ein selbstständiger Herrscher, sondern dem von 9 v. Chr. bis um 40 n. Chr. in Petra regierenden König Aretas IV. Philodemos unterstellt war.

 

Das Bekehrungserlebnis erfolgte in dem Augenblick, in dem Saulus der Stadt Damaskus nahe kam und somit die bevorstehende Verfolgung der Anhänger Christi sowohl räumlich als auch zeitlich in greifbare Nähe rückte.

 

Unklar bleibt, was Saulus genau sah. Die Aussage, dass Saulus ein Licht aus dem Himmel umstrahlte, gibt das Geschehen wieder, nicht aber die subjektive Wahrnehmung. Am nahe liegendsten ist, dass Saulus das Licht sah, das ihn umstrahlte. Möglich ist auch, dass Saulus im Licht die Gestalt Jesu sah, was aus dem Text jedoch nicht zu erschließen ist. Weil in V. 3 nichts zum Sehen des Saulus ausgesagt wird, kann man auch − nimmt man V. 3 isoliert für sich - die Meinung vertreten, dass Saulus nichts sah.

 

Das Licht macht deutlich, dass es sich um keine irdische, sondern um eine göttliche Erscheinung handelt. Gott/Jesus Christus ist das Licht bzw. ist mit Licht verbunden (vgl. Ps 104,2; 112,4; Jes 2,5; 9,1; 60,3; Mt 4,16; Joh 8,12; 9,5; 12,46; 1 Joh 1,5; Offb 21,24 u. v. m.) und es strahlt bei dessen Erscheinung oder bei der Erscheinung eines Engels Licht auf (vgl. Ex 19,16; 2 Sam 22,15; Mt 17,5; Apg 12,7).

 

Die Formulierung "aus dem Himmel“ lässt annehmen, dass der Himmel geöffnet war. Diese Öffnung ermöglichte eine Verbindung zwischen Himmel und Erde.

 

Weiterführende Literatur: R. Berger 1995, 261-263 vertritt die Ansicht, dass Lukas (= der Verfasser der Apg) bei seinem Bericht über die Bekehrung des Paulus Apg 19,1ff. eine Lokaltradition der Gemeinde in Damaskus verarbeitet habe. Diese Lokaltradition erlaube uns nicht nur Aufschlüsse über die Christen in Damaskus, sondern ermögliche − da Paulus seine Kenntnisse über das Christentum wohl in hohem Maße der Gemeinde in Damaskus verdanke − auch Einblicke in eine frühe Phase des Apostels Paulus selbst und damit in die Ursprünge seiner Theologie. A. von Dobbeler 2000, 49-65 merkt an, dass diese Einschätzung im Widerspruch zur herrschenden Auffassung stehe, dass der Verfasser der Apg zwar einen in Apg 9 noch am deutlichsten erkennbaren Grundbericht benutzt habe, dieser aber gerade nicht in der Nähe des Apostels Paulus anzusiedeln sei, sondern im Gegenteil in einigen Abstand von Paulus führe. A. von Dobbeler versucht die Einschätzung K. Bergers zu stützen, indem er auf eine Eigentümlichkeit der lukanischen Erzählung aufmerksam macht, die bisher übersehen worden sei und die auf eine Nähe der von Lukas verarbeiteten Tradition zum theologischen Denken des Apostels Paulus weise. Oder anders ausgedrückt: In der narratio Apg 9 finde eine Denkfigur ihren Ausdruck, die wir als Strukturelement der theologischen argumentatio des Paulus kennen, nämlich die Gegenüberstellung der Macht der Briefe und der Kraft des Geistes. Um dies zu verdeutlichen, zeichnet A. von Dobbeler zunächst die narrative Struktur des lukanischen Berichts Apg 19,1-22 nach und fragt sodann nach Berührungspunkten mit der paulinischen Argumentation in 2 Kor 3. Abschließend beleuchtet er den möglichen religionsgeschichtlichen Hintergrund der hier wie dort begegnenden Denkfigur.

 

R. Buitenwerf 2008, 70-73 befasst sich mit der Frage, welche Quelle Apg 9,3-9 zugrunde liegt. Fazit: Der Inhalt von Apg 9,3-9 basiere auf den paulinischen Briefen.

 

J. T. Townsend 1988, 119-131 legt dar, dass gemeinhin angenommen werde, dass in Apg 9,1-29 von denselben Ereignissen die Rede sei, die Paulus selbst in Gal 1,11-20 zur Sprache bringe. Die Widersprüche müssten nicht unbedingt geglättet werden, sondern könnten auch −angesichts der vermutlich größeren historischen Zuverlässigkeit des paulinischen Selbstberichtes − auf Fehler seitens der Apg zurückgeführt werden. Von dieser These ausgehend untersucht J. T. Townsend die Apg und die ihr zugrunde liegende Tradition. Fazit: In Apg 9,1-29 habe der Verfasser der Apg wohl korrekte, aber rudimentäre Informationen ausgeschmückt. Ein Teil dieser Ausschmückungen stamme wohl von dem Verfasser der Apg selbst. Angesichts der Beobachtung, dass sich in dem Bericht der Apg Inhalte finden, die Paulus leugnet, sei wahrscheinlich, dass der andere Teil der Ausschmückungen auf diejenigen Personen zurückgeht, gegen die sich Paulus in seinen Briefen wendet.

 

J. Schäfer 2010, 199-222 gibt zunächst einen Forschungsüberblick zur Frage nach den Dionysosmysterien in der Apg und geht dann auf das Drama "Die Bakchen“ von Euripides ein, das eng mit Dionysos verbunden sei und zahlreiche Parallelen zur Apg aufweise. In einem dritten Schritt vergleicht J. Schäfer die Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apg textanalytisch mit dem Euripidesdrama und zeigt, dass die Deutlichkeit der lexikalischen, inhaltlich-kontextuellen und motivischen Parallelen je nach Erzählkontext variiere. Dem Verfasser der Apg, der sich selbst als antiker Historiker verstehe, dienten die Anspielungen auf die Dionysosmysterien als Hilfsmittel für die Darstellung des Glaubens an Jesus Christus in der hellenistisch geprägten Kultur. Den antiken Lesern würden Assoziations-, Identifikations- und Anknüpfungsmöglichkeiten für den neuen Christusglauben geboten. Zu 9,1-19: Paulus werde als ein Streiter gegen Gott dargestellt; ebenso erscheine der König Pentheus als ein Streiter gegen (den) Gott (Dionysos). Die göttliche Lichterscheinung erinnere an den göttlichen Blitz, mit dem Dionysos das Haus des Pentheus in Flammen setze und der damit gegen Pentheus, den Verfolger des neuen Kultes, gerichtet sei.

 

J. Calloud 1985, 3-29 analysiert Apg 9,1-19 unter semiotischen Gesichtspunkten. Dabei legt er dar, dass sich in diesem Abschnitt zwei Visionen ereigneten. Die erste Vision sei diejenige des Paulus. Sie werde allerdings nicht ausdrücklich als "Vision“ bezeichnet und erwähne auch kein Sehen des Paulus, sondern kombiniere ein visuelles und ein auditives Element, nämlich das Licht aus dem Himmel und die Stimme (V. 3-4). Diese Vision führe dazu, dass Paulus von seinem geplanten Vorgehen abkommt. Die zweite Vision sei diejenige des Hananias (V. 10-16), wobei erst jetzt der Begriff "horama“ ("Vision/Erscheinung“) gebraucht werde. In dieser Vision werde auf eine dritte Vision (V. 12) verwiesen. Die semiotische Analyse von Apg 9.1-19 setzen J. Calloud 1985, 40-53; J. Calloud 1985, 21-42 und J. Calloud 1986, 1-19 fort.

 

I. Czachesz 1995, 5-32 wendet V. Robbins' sozial-rhetorische Exegese auf Apg 9,1-30 an.

 

D. Marguerat 1995, 127-155 geht den Fragen "Warum drei Berichte von Paulus' Bekehrung (Apg 9; 22; 26) und warum solch große Unterschiede zwischen den Berichten?“ unter erzählkritischen Gesichtspunkten nach. Fazit: Der Bericht variiere, je nachdem, wer berichtet − der Erzähler oder Paulus − und welches die Aussageabsicht ist. Wichtig sei auch die Frage nach der Funktion innerhalb der Gesamtkomposition der Apg. Apg 9,1-30 stelle Saulus' (= Paulus') Bekehrung als machtvolles Werk Christi dar. Dabei verwandele Christus zwar seinen eigenen Feind, müsse jedoch seine eigene Kirche erst zur Annahme der Akzeptanz von dessen neuer Identität bringen. Schließlich wird Paulus zum Werkzeug von Christi weltweiter Mission. Apg 22 stelle das Judesein des Paulus heraus und Apg 26 mache deutlich, wie die Bekehrung unter den Heiden legitimiert wird.

Auch B. R. Gaventa 1986, 52-95 geht davon aus, dass die Unterschiede zwischen den drei Bekehrungsberichten mit den verschiedenen narrativen Kontexten zu erklären seien. Grundlage sei jedoch ein und dieselbe Tradition. Apg 9 stelle Paulus als Feind der Kirche, der Christ werde, dar. In Apg 22 stelle sich Paulus nach seiner Festnahme in einer ersten Verteidigungsrede als loyaler Jude dar, der vom "Gott der Väter“ aufgefordert worden sei, allen Völkern Zeugnis abzulegen. In der letzten Verteidigungsrede Apg 26 schließlich stelle sich Paulus als Opfer innerjüdischer Auseinandersetzungen dar.

 

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V. 4

 

Beobachtungen: Es ist nur ausgesagt, dass Saulus auf die Erde fiel, nicht aber, dass er von einem Reittier, von einem Wagen oder von einer Sänfte auf die Erde fiel. Er scheint also zu Fuß gereist zu sein.

 

Dass Saulus auf die Erde fiel, muss nicht unbedingt damit erklärt werden, dass er das ihn umscheinende Licht gesehen hat. Sicher ist nur, dass er etwas wahrgenommen hat. Die Wahrnehmung muss nicht visueller, sondern kann auch akustischer oder anderer körperlicher Art gewesen sein.

 

Es fällt auf, dass die Stimme Saulus nicht mit "Saulos“, also der griechischen Form des Namens, anredete, sondern mit "Saoul“. Die gleiche Form taucht in 22,7 und 26,14 auf, wo Paulus (= Saulus) sein Bekehrungserlebnis schildert. Gemäß 26,14 redete die Stimme auf Hebräisch zu Paulus. Die Namenswiederholung erhöht das Gewicht des Ausspruches.

 

Die Stimme sagte nicht "Saul, Saul, was verfolgst du meine Anhänger?“, sondern "Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Daraus ist zu schließen, dass eine Verfolgung der Anhänger Christi zugleich eine Verfolgung Christi selbst ist.

 

Weiterführende Literatur: S. R. Bechtler 1987, 53-77 untersucht exegetisch die lukanischen Berichte von der Berufung und Beauftragung des Paulus innerhalb der Erzählung Lk-Apg, um deren Funktion innerhalb dieser Erzählung und deren Bedeutung und Wichtigkeit für Lukas aufzudecken.

 

M. Diefenbach 2006, 409-418 geht der Frage nach, was "Jesus erschien Paulus“ bedeutet. Er stellt eine Steigerung der Darstellung des so genannten Damaskusereignisses in der Apg fest. Obwohl der Verfasser der Apg aus einer ganz anderen zeitlichen und theologischen Perspektive auf Paulus zurückblicke, komme er ihm in vielem überraschend nahe. Obwohl die Damaskuserscheinung für diesen Verfasser keine Ostererscheinung sei, überrage sie doch in unvergleichlicher Weise alles, was in der Apg sonst noch an Visionen und Offenbarungen erzählt wird. Obwohl Paulus nach der Auffassung des Verfassers der Apg kein Apostel sei, würden die Größe seiner Berufung und die Vorbildlichkeit seines missionarischen Wirkens so meisterhaft geschildert, dass er als "Zeuge“ am Ende doch fast auf derselben Stufe wie die Apostel stehe. Die Missionstätigkeit des Paulus sei nach Apg 26 eine von Gott selbst gewollte, so auch der Standpunkt des Paulus im Galaterbrief.

 

C. T. Dougherty 1997, 43-44 geht der Frage nach, ob Paulus vom Pferd fiel oder ob er stehend oder gehend zu Boden stürzte. Er legt dar, dass von Katholiken im Gegensatz zur Protestanten gewöhnlich angenommen werde, dass er vom Pferd stürzte. In der Kunst werde Paulus bis ins 12. Jh. meist zu Fuß dargestellt, danach meist auf dem Rücken eines Pferdes. Das Pferd habe auf die Bedeutung des Paulus hinweisen sollen.

 

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V. 5

 

Beobachtungen: Obwohl Saulus nicht wusste, wer das ihn umstrahlende Licht war oder von wem es ausging, redete er seinen Gesprächspartner mit "Herr“ an. Dabei kann "Herr“ als respektvolle Anrede eines unbekannten Wesens, als Bezeichnung für einen Höhergestellten (Mensch von besonderem Ansehen, Engel, Gott) oder als christologischer Titel verstanden werden. Auf jeden Fall führte die Erscheinung zu Demutsbekundungen: erst das Hinfallen, dann die Anrede "Herr“. Wird "Herr“ als christologischer Titel verstanden, so kann man schlussfolgern, dass sich Saulus unbewusst schon vor dem Erscheinungserlebnis zu Jesus Christus hingewandt hatte. Diese Hinwendung fand in einer Situation, in der Saulus spontan und unkontrolliert reagierte, ihren Ausdruck.

 

Zur Vorstellung Jesu gehören die Betonung des "Ich“, also der Präsenz und des Lebens Jesu, die Nennung des Namens und die Betonung der Verfolgung durch Saulus. Die Betonung der Präsenz und des Lebens Jesu und die Betonung der Verfolgung durch Saulus lassen das Verhalten des Saulus als völlig unangemessen erscheinen: Obwohl Jesus präsent ist und lebt und obwohl von ihm Heil ausgeht, wie das strahlende Licht anzeigt, wird er von Saulus verfolgt.

 

Eine Textvariante bietet "Ich bin Jesus, der Nazoräer,…“ statt "Ich bin Jesus,…“. Diese Textvariante dürfte auf eine Anpassung an 22,8 zurückzuführen sein.

 

Weiterführende Literatur: Mit der Textvariante der sog. clementinischen Vulgataausgaben und deren Auslegung seitens der lateinischen Kirchenväter Hilarius, Ambrosius und Augustinus befasst sich J. Doignon 1980, 477-489.

 

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V. 6

 

Beobachtungen: Es vollzog sich in Saulus' Leben eine entscheidende Kehrtwende: Nicht er selbst entschied mehr über sein Tun, sondern Jesus Christus. Zunächst schien es noch so, als könnte er sein Verfolgungswerk fortsetzen, denn ihm wurde geheißen aufzustehen und in die Stadt (Damaskus) zu gehen. Der Hinweis, dass ihm in der Stadt gesagt werde, was er tun soll, macht aber deutlich, dass Saulus sein eigenes Vorhaben wohl nicht mehr fortsetzen konnte.

 

Es ist unerheblich, wer Saulus sagen wird, was er tun soll. Entscheidend ist, dass ein Übergang stattfindet von einem Handeln gemäß dem eigenen Willen hin zum Handeln gemäß dem Willen Jesu. Diejenige Person, die Saulus sagt, was er tun soll, spricht den Willen Jesu letztendlich nur aus. Dass die Person einen eigenen, vom Willen Jesu abweichenden Willen haben könnte, kommt nicht in den Blick.

 

Weiterführende Literatur: J. T. Lamoreaux 2008, 122-134 analysiert Apg 9,1-19a im Lichte der "Social Identity Theory“ und "Ritual Theory“ und vergleicht den Abschnitt mit Passagen aus verschiedenen Texten der griechisch-römischen Antike. Er macht deutlich, dass im Rahmen kollektivistischer Kulturen der Wechsel von einer Gruppe zur nächsten − wie bei Saulus - ein mühsamer und manchmal gewaltsamer Akt sei. Bezüglich des Gruppenwechsels des Saulus sei die Bezeichnung "recruitment“ ("Stärkung/Zuwachs“) angemessener als die Bezeichnung "conversion“ ("Bekehrung“).

Gemäß T. Reeve 2008, 129-143 ließen sich in Apg 9,1-20 in großem Umfang und detailliert Charakteristika von Übergangsriten nachweisen, wie sie ansonsten zahlreich in der lukanischen Erzählung (Lk-Apg) und griechisch-römischen Erzählungen auftauchten. T. Reeve untersucht den Bericht 9,1-20 vom Blickwinkel der Ritualstudien aus, um so Aufschluss über die Stichhaltigkeit dieses Ansatzes und über die Stellung und Bedeutung des Damaskusereignisses in der gesamten lukanischen Erzählung zu bekommen.

 

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V. 7

 

Beobachtungen: Saulus war nicht alleine unterwegs, sondern er wurde von weiteren Männern, deren Zahl offen bleibt, begleitet. Zur Herkunft und Funktion der Männer auf dieser Reise wird nichts gesagt. Sie können eine Schutzfunktion haben, in Damaskus bei den Synagogengemeinden als Fürsprecher für die Sache des Saulus auftreten oder aber auch zum Zwecke der Hilfe beim Aufspüren der Christen und bei den Verhaftungen mitreisen.

 

Wenn es heißt, dass die Reisebegleiter standen, ist daraus zu schließen, dass sie wie Saulus zu Fuß unterwegs waren (vgl. V. 4). Bei einem Ritt hätte auch das Stehen des Reittieres zur Sprache kommen müssen. Und bei einer Fahrt auf einem Wagen hätten die Reisebegleiter auch nach einem plötzlichen Halt gesessen.

 

Die Sprachlosigkeit der Reisebegleiter liegt vermutlich in dem einschneidenden Erlebnis begründet. Von den Reisebegleitern heißt es ausdrücklich, dass sie niemanden sahen, aber die Stimme hörten. Insofern erlebten sie das Erscheinungsereignis zumindest teilweise mit. "Niemanden“ ("oudena“) bezieht sich auf eine Person. Nimmt man V. 7 isoliert für sich, können die Reisebegleiter durchaus das Saulus umscheinende Licht gesehen haben, denn bei diesem handelt es sich ja nicht um eine Person. Dass es nicht heißt, dass die Reisebegleiter "nichts“ ("ouden“) sehen konnten, muss allerdings nicht damit erklärt werden, dass sie zwar keine Person, jedoch das Licht gesehen haben. Wahrscheinlicher ist, dass die Formulierung der Erwartungshaltung der Reisebegleiter entspricht: Beim Hören einer Stimme ist ein Mensch in der Nähe zu erwarten, von dem die Stimme stammt. Einen solchen, zu erwartenden Menschen konnten die Reisebegleiter nicht sehen. Für eine solche Deutung spricht auch, dass den Reisebegleitern die Erscheinung nicht galt. Als Christenverfolger treten sie nicht in Erscheinung und sie spielen für die Geschichte des Christentums keine − weder eine positive noch eine negative − Rolle. Sie haben in der Erzählung keine andere Aufgabe, als den Hauptakteur Saulus zu begleiten und ihn nach dessen Erblindung an der Hand zu nehmen und nach Damaskus hinein zu geleiten.

Dass die Reisebegleiter in dem Geschehen nur Randfiguren waren, geht schon daraus hervor, dass sie nicht wie Saulus auf die Erde stürzten, sondern nur sprachlos stehen blieben. Auch sie waren von dem Geschehen überwältigt, allerdings nicht in gleichem Maße wie Saulus. In jedem Fall stellte die Reaktion der Reisenden jedoch eine Unterbrechung des Marsches dar. Diese Unterbrechung und die Sprachlosigkeit sind bezüglich der Reisebegleiter von Bedeutung, nicht die Art des Stehens.

 

Weiterführende Literatur: G. Steuernagel 1989, 619-624 stellt die gängige Übersetzung "…denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden“ infrage, denn aus dieser ergebe sich ein Widerspruch zwischen Apg 9,7 und 22,9, wonach die Begleiter die Stimme nicht hörten. Im neutestamentlichen Griechisch könne "einen Laut hören“ mit dem Genitiv oder dem Akkusativ verbunden werden, wogegen im klassischen Griechisch der Genitiv die Regel sei. Folglich könne der Akkusativ "mêdena“ ("niemanden“) auch auf das Hören bezogen werden. Demnach hätten die Begleiter − wie in 22,9 − die Stimme nicht gehört. Der Genitiv lasse jedoch etwas wie in der Schwebe. Hier sei eingefangen, dass eine Stimme im Raum gewesen sein muss, denn Saulus gebe auf eine Frage eine Antwort. Die Gefährten hörten, dass Saulus gehört haben muss. G. Steuernagel schlägt folgende Übersetzung vor: "Sie hörten(:), die Stimme des Herrn musste dagewesen sein. Aber sie sahen ja keinen.“ Der zweite Satz "Aber sie sahen ja keinen“ bedeute zugleich noch einmal, dass auch die Stimme für sie selbst nicht erfahrbar war.

 

R. D. Witherup 1992, 67-86 sieht das dreimalige Eingehen auf Paulus' Bekehrung/Berufung als ein offensichtliches Beispiel der Wiederholung im NT an. Diese Wiederholung sei eine Erzähltechnik und nicht mit verschiedenen Quellen oder mittels eines Vergleichs mit paulinischen Schriften zu erklären.

 

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V. 8

 

Beobachtungen: Saulus gehorchte der Stimme Jesu und stand von der Erde auf. Das Aufstehen war die Voraussetzung für die weiteren Handlungen. Saulus handelte nun jedoch nicht mehr frei aus eigenen Stücken, sondern folgte dem Willen Jesu.

 

Aufgrund seiner Blindheit war Saulus hilflos. Aus dem aktiv die Initiative ergreifenden, selbstherrlichen Verfolger ist also ein hilfloser Geführter geworden, dem gesagt wird, was er zu tun hat. Saulus wurde zwar in die Stadt geführt, in der die Fesselung der Christen geplant war, doch war an das Verfolgungsvorhaben vorerst nicht zu denken.

 

Der Grund für die Blindheit bleibt offen. Saulus kann innerlich so erschüttert worden sein, dass er psychisch bedingt erblindet ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er von der Helligkeit des Lichtes geblendet worden ist, denn in Apg 26,13 berichtet Saulus (= Paulus), dass das Licht heller als der Glanz der Sonne gewesen sei. Und in diesem Vers sagt Saulus auch ausdrücklich, dass er das Licht gesehen habe. Aufgrund von 9,8 und 26,13 ist also hinsichtlich 9,3 anzunehmen, dass Saulus das ihn umstrahlende Licht gesehen hat und dieses gleißend war. So wird auch verständlich, dass er die Augen aufgrund der Erscheinung spontan geschlossen hat.

 

Eine schwach bezeugte Textvariante geht davon aus, dass Saulus "niemanden“ ("oudena“) sah. Weil Saulus aber von seinen Begleitern an der Hand nach Damaskus hinein geführt werden musste, trifft die Textvariante den Sachverhalt nicht richtig: Es geht nicht darum, dass Saulus keine Menschen mehr sehen konnte, sondern dass er nichts (ouden) mehr sehen konnte, also vollständig erblindet war.

 

Weiterführende Literatur: D. Hamm 1990, 63-72 legt dar, dass die Erblindung und das Wiedererlangen des Augenlichts in der Apg symbolische Bedeutung haben. In Apg 9 erfahre Paulus die Erblindung als eine Strafe Gottes und das Wiedererlangen des Augenlichts als göttliche Heilung. In Apg 22 werde derselbe Verlust und dasselbe Wiedererlangen des Augenlichts nur sehr zurückhaltend und dabei mehrdeutig berichtet. Und in Apg 26 schließlich wandele sich die Erblindung und das Wiederlangen des Augenlichts von einer konkreten Erfahrung des Paulus hin zu einer Metapher, die die endzeitliche Mission von Israel, Jesus und Paulus beschreibe.

 

J. Moles 2006, 65-104 geht davon aus, dass Lukas die "Bakchen“ des athenischen Tragikers Euripides gekannt und der Apg zugrunde gelegt habe. Bezüglich Apg 9,8-18 sieht er Bacchae 576-641 als Parallele: ein Blinder (Paulus/Pentheus) werde einer göttlichen Erscheinung gewahr.

 

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V. 9

 

Beobachtungen:

 

Der Grund für die Verweigerung der Nahrungsaufnahme bleibt offen. Ist die psychische Erschütterung für sie verantwortlich? Oder ist sie als Fasten zu verstehen? Dann wäre nach dem Grund für das Fasten zu fragen. Handelt es sich um einen Ausdruck der Buße angesichts der bisherigen Verfolgung der Christen? Oder handelt es sich um eine Vorbereitung auf das Kommende, das in V. 6 nur verhüllt angekündigt wird? Oder handelt es sich ganz konkret um eine Taufvorbereitung? Möglich ist auch eine Kombination mehrerer Gründe.

 

Die Zahl "drei“ verweist auf das Ende der Bekehrungserzählung, da Saulus seine Sehkraft zurückerhält. Auf eine Taufvorbereitung weist diese Zahl nicht hin. So werden in der Didache (7,4) ein oder zwei Tage Fasten vor der Taufe verlangt, nicht aber drei. Der Kirchenvater Tertullian schreibt in seiner Schrift "de baptismo“ (20) keine Taufdauer vor. Das gilt auch für die Ausführungen Justins des Märtyrers in dessen ersten Apologie (61).

 

Weiterführende Literatur:

 

 

Literaturübersicht

 

Bechtler, Steven Richard; The Meaning of Paul’s Call and Commissioning in Luke’s Story: An Exegetical Story of Acts 9, 22, and 26, SBT 15/1 (1987), 53-77

Berger, Klaus; Theologiegeschichte des Urchristentums: Theologie des Neuen Testaments, 2., überarb. und erw. Aufl., Tübingen − Basel 1995

Buitenwerf, Rieuwerd; Acts 9:1-25. Narrative Theology based on the Letters of Paul, in: R. Buitenwerf et al. [eds.], Jesus, Paul and Early Christianity, Leiden 2008, 61-88

Calloud, Jean; Sur le chemin de Damas. Quelques lumières sur l’organisation discursive d’un texte. Actes des Apôtres 9,1-19, SémBib 37 (1985), 3-29

Calloud, Jean; Sur le chemin de Damas (2). Quelques lumières sur l’organisation discursive d’un texte. Actes des Apôtres 9,1-19, SémBib 38 (1985), 40-53

Calloud, J.; Sur le chemin de Damas (3). Quelques lumières sur l’organisation discursive d’un texte. Actes des Apôtres 9,1-19, SémBib 40 (1985), 21-42

Calloud, Jean; Sur le chemin de Damas (4). Quelques lumières sur l’organisation discursive d’un texte. Actes des Apôtres 9,1-19, SémBib 42 (1986), 1-19

Czachesz, István, Socio-rhetorical Exegesis of Acts 9:1-30, CV 37/1 (1995), 5-32

Diefenbach, Manfred; Das "Sehen des Herrn“ vor Damaskus: Semantischer Zugang zu Apg 9, 22 und 26, NTS 52/3 (2006), 409-418

Doignon, Jean; Le dialogue de Jésus et de Paul (Actes 9,4-6). Sa "pointe“ dans l’exégèse latine la plus ancienne (Hilaire, Ambroise, Augustin), RSPhTh 64/4 (1980), 477-489

Dougherty, Charles T.; Did Paul Fall Off a Horse? A Deceptively Simple Question Reveals Differences in Bible Interpretation, BiRe 13/4 (1997), 43-44

Gaventa, Beverly Roberts; From Darkness to Light: Aspects of Conversion in the New Testament (Overtures to Biblical Theology 20), Philadelphia, Pennsylvania 1986

Hamm, Dennis; Paul’s Blindness and Its Healing: Clues to Symbolic Intent (Acts 9; 22 and 26), Bib. 71/1 (1990), 63-72

Lamoreaux, Jason T.; Social Identity, Boundary Breaking, and Ritual: Saul’s Recruitment on the Road to Damascus, BTB 38/3 (2008), 122-134

Marguerat, Daniel; Saul’s Conversion (Acts 9,22,26) and the Multiplication of Narrative in Acts, in: C. M. Tuckett [ed.], Luke’s Literary Achievement (JSNTS 116), Sheffield 1995, 127-155

Moles, John; Jesus and Dionysus in the Acts of the Apostles and Early Christianity, Hermathena 180 (2006), 65-104

Reeve, Teresa; Divine Ritualizing and the Transformation of Paul in Acts 9, JAAS 11/2 (2008), 129-143

Schäfer, Jan; Zur Funktion der Dionysosmysterien in der Apostelgeschichte. Eine intertextuelle Betrachtung der Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apostelgeschichte und der Bakchen des Euripides, ThZ 66/3 (2010), 199-222

Steuernagel, Gert; Akouontes men tês phônês (Apg 9.7). Ein Genitiv in der Apostelgeschichte, NTS 35/4 (1989), 619-624

Townsend, John T.; Acts 9:1-29 and Early Church Tradition, SBL.SPS 27 (1988), 119-131

von Dobbeler, Axel; Die Macht der Briefe und die Kraft des Geistes. Eine Antithese in Apg 9 und 2 Kor 3 und ihr religionsgeschichtlicher Hintergrund, in: A. von Dobbeler [Hrsg.], Religionsgeschichte des Neuen Testaments, Tübingen − Basel 2000, 49-65

Witherup, Ronald D.; Functional Redundancy in the Acts of the Apostles: A Case Study, JSNT 48 (1992), 67-86

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