Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Apostelgeschichte (9-12)

Die Anfänge der Heidenmission

Apg 11,27-30

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Apg 11,27-30

 

 

Übersetzung

 

Apg 11,27-30:27 In diesen Tagen aber kamen von Jerusalem Propheten nach Antiochia herab. 28 Es trat aber einer von ihnen mit Namen Agabus auf und kündigte durch den Geist eine große Hungersnot an, die über den ganzen Erdkreis kommen werde. Die trat unter Claudius ein. 29 Da stellte von den Jüngern ein jeder zur Verfügung, so viel er zu geben imstande war, um [es] den in Judäa wohnhaften Brüdern zur Unterstützung zukommen zu lassen. 30 Das taten sie auch, indem sie [es] durch [die] Hand des Barnabas und Saulus den Ältesten schickten.

 

 

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V. 27

 

Beobachtungen: 11,19-30 handelt vom Anfang der Gemeinde in Antiochia. Dabei ist der Abschnitt folgendermaßen untergliedert: Die Mission der wegen Stephanus Verfolgten (11,19-21); der von der Jerusalemer Gemeinde nach Antiochia gesandte Barnabas bestärkt die antiochenischen Gemeindeglieder im Glauben (11,22-24); Barnabas und Saulus wirken ein Jahr gemeinsam in Antiochia (11,25-26); die Kollekte der antiochenischen Christen für die Glaubensgenossen in Judäa (11,27-30).

 

Die Zeitangabe "in diesen Tagen“ ist vage, weil nicht klar ist, welchen Zeitraum "diese Tage“ umfassen. Es ist anzunehmen, dass sich die Zeitangabe auf den Zeitabschnitt bezieht, der unmittelbar vor V. 27 genannt wird. Demnach wäre die einjährige gemeinsame Wirkungszeit von Barnabas und Saulus in Antiochia gemeint (vgl. V. 26).

 

Das Verb "herabkommen“ ("katerchomai“) ist vermutlich gewählt, weil Jerusalem im judäischen Bergland höher als das in der Nähe der Mündung des Orontes gelegene Antiochia lag.

 

Die Propheten tauchten als Gruppe auf. Dabei ist unklar, ob sie nur zufällig zusammengekommen waren oder ob sie eine dauerhaft gemeinsam umherreisende Gruppe bildeten. Bei letzterer Möglichkeit wäre an Schüler einer bestimmten Prophetenschule zu denken. Fraglich ist, ob Jerusalem nur der letzte Aufenthaltsort der Propheten oder auch deren Herkunftsort war.

Warum die Propheten von Jerusalem nach Antiochia kamen, ist unklar. Hatten sie sich bewusst Antiochia als Ziel auserkoren oder waren sie Wanderpropheten, die beim Umherwandern auch in Antiochia Halt machten? Oder hat der Verfasser der Apg die Prophetengruppe nur fiktiv nach Antiochia herabkommen lassen, damit Agabus durch seine Vorhersage die antiochenischen Christen auf die erforderliche Kollekte vorbereiten konnte und die Kollekte den Charakter einer umsichtig geplanten Aktion bekam?

 

Einer von diesen Propheten war Agabus, wobei die griechische Namensform "Hagabus“ lautete. Vielleicht ist der Name von dem hebräischen Namen einer Heuschreckenart, dem ḥāgāḇ, abgeleitet. Möglich ist aber auch eine Beziehung zu einem syrischen Frauennamen ("gb“) mit der Bedeutung "Liebe/Liebhaber(in)“.

 

Weiterführende Literatur: Laut É. Delebecque beginne in 11,25 die Aufgliederung des Textes in einen westlichen (v. a. Codex Bezae Cantabrigiensis) und östlichen Text, die bis 11,29 reiche. V. 25-26 und V. 27-29 seien wegen der jeweils eigenen Probleme voneinander zu trennen. É. Delebecque vergleicht die beiden Texte, wobei er sich insbesondere den V. 26-28 widmet.

 

R. Pesch 1981, 105-122 geht von den Thesen F. Mußners in dessen Kommentar von 1974 aus, dass trotz der zahlreichen Unterschiede kein Grund zu der Annahme bestehe, Gal 2,1-10 und Apg 15 würden von zwei verschiedenen Ereignissen berichten, und dass vermutlich das "Aposteldekret“ erst einige Zeit nach dem "Apostelkonzil“ zustande gekommen und von Lukas in den Bericht über dasselbe hineingenommen worden sei. R. Pesch stellt nun die Frage, wie Lukas überhaupt dazu kommt, das "Aposteldekret“ in seinen Bericht über das "Apostelkonzil“ hineinzunehmen. Ergebnis: Lukas habe (aus Antiochenischer Tradition) neben dem Bericht über die dortige Gemeindegründung (Apg 11,19-26) einen Bericht über das Jerusalemer Abkommen (Apg 11,27-30; 12,25; 15,1-4.12b) und das Zustandekommen des Aposteldekrets (Apg 10,1-11,18; 15,5-12a.13-33) gekannt. Da ihm daran gelegen sei, die Heidenmission ganz in die Kontinuität der urchristlichen Gemeinde einzubetten und an Jerusalem zurückzubinden, lasse er sie im Werk des Petrus grundgelegt sein. Weil er die Eröffnung der beschneidungsfreien Heidenmission Petrus zuschreibe, dessen Initiative durch die Jerusalemer gebilligt werde, könne er die Berichte über das Jerusalemer Abkommen und die Lösung des Antiochenischen Konflikts zusammenziehen, wobei er freilich die mit dem Jerusalemer Abkommen zusammenfallende Kollekte der Antiochener ablöse und im (vielleicht ursprünglichen) Anschluss an die Erzählung von der Gründung der Gemeinde kurz erwähne; den knappen Bericht schachtele er um die Überlieferung von der Verfolgung durch Agrippa I.

 

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V. 28

 

Beobachtungen: Das Verb "anistamai“ kann in V. 27 als "aufstehen“ oder als "auftreten“ gedeutet werden. Bei ersterer Deutung ist von einer Versammlung auszugehen, bei der die Versammelten saßen. In dieser Versammlung wäre Agabus aufgestanden, um seine Rede zu halten. Bei letzterer Deutung wäre das Auftreten des Agabus formal ausgedrückt: Seine Rede war nicht persönlicher Art im kleinen Kreis, sondern öffentlicher Art gewesen. Bei dieser Deutung bliebe offen, in welchem Rahmen die Rede genau erfolgt ist.

Das Imperfekt "esêmanen“ ("er kündigte an / weissagte“) weist auf eine länger währende oder sich wiederholende Rede hin, was gegen eine einmalige Ankündigung in einer Versammlung spricht. Vielmehr scheint Agabus eine Zeit lang immer wieder die bevorstehende Hungersnot angekündigt zu haben. Dabei lässt das Verb "sêmainô“ ("ankündigen / weissagen / aus Zeichen erkennen / ein Zeichen geben“) annehmen, dass die Verkündigung orakelhaften Charakter hatte und keine rein sachliche Verkündigung von Fakten darstellte.

 

Es fällt auf, dass Agabus weniger als "Sprachrohr Gottes“ als vielmehr als Wahrsager erscheint, der die Zukunft vorhersagt. Dass die Hungersnot dem Willen Gottes entsprechen könnte, ist hier nicht von Bedeutung.

 

Der "Geist“ ("pneuma“) wird nicht genauer bestimmt. Folglich kann nur gesagt werden, dass dieser Geist zur Vorhersage befähigte, und zwar zu einer zutreffenden Vorhersage. Dieser Geist kann der Geist des Agabus gewesen sein, der zur Vorhersage fähig war. Allerdings wäre dann das Posessivprononomen "sein“ zu erwarten gewesen, womit die Übersetzung gelautet hätte: "durch seinen Geist“. Der Geist kann auch ein Wahrsagegeist gewesen sein. Ebenso kommt der heilige Geist infrage. Und schließlich ist auch an einen bösen Geist zu denken, wobei im Text nichts auf einen solch schlechten Geist hinweist.

 

Der griechische Begriff "oikoumenê“ meint eigentlich die ganze bewohnte Erde. Diese Bedeutung kann hier jedoch nicht zutreffen, weil bei einer solch weltweiten Hungersnot auch die Antiochener betroffen gewesen wären und nicht hätten helfen können. Folglich muss die Hungersnot einen räumlich begrenzten Charakter gehabt haben. Weil in der Antike griechische Autoren von "oikoumenê“ sprachen, wenn sie die ganze griechische Welt meinten, und römische Autoren den Begriff benutzten, wenn sie die ganze römische Welt meinten, ist zu vermuten, dass der Verfasser der Apg den Begriff aus jüdischer Sicht gebrauchte und nur die ganze jüdische Welt − insbesondere Judäa und Jerusalem (vgl. V. 29-30) - meinte. Eine solch räumlich begrenzte Hungersnot würde der Tatsache entsprechen, dass es in der Regierungszeit des Kaisers Claudius (41-54 n. Chr.) eine Vielzahl räumlich begrenzter Hungersnöte gab. Die Formulierung "über den ganzen Erdkreis“ kann auch im Sinne der Betonung der Schwere der Hungersnot gedeutet werden: Es war eine Hungersnot, die von größerer Bedeutung als eine rein lokale Hungersnot war.

 

Die Verortung der Ereignisse in der Weltgeschichte ist typisch für den Verfasser der Apg (und zugleich des Lukasevangeliums). So nennt er als einziger ntl. Autor die Namen von Kaisern, wobei Claudius der einzige Kaiser ist, dessen Name zweimal − nämlich auch in 18,2 - erwähnt wird.

 

Der doppelte Infinitiv, aus einem Präsens (mellein) und Futur (esesthai) bestehend, ist auffallend. Drückt dieser nur die Zukünftigkeit des Vorhergesagten aus oder kommt beiden Infinitiven eine ganz spezifische Bedeutung zu? Nimmt man letzteres an, so könnte das erste Futur die Sicherheit des Eintreffens aussagen, das zweite Futur die Zukünftigkeit.

 

Der westliche Text bietet zu Beginn von V. 28 einen anderen Wortlaut: "Es herrschte aber große Freude. Als wir aber versammelt waren, sprach einer von ihnen…“. In dieser Variante findet sich erstmals in der Apg eine Wir-Passage (weitere Wir-Passagen: 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16), wobei unklar ist, wer der zur Wir-Gruppe gehörige Sprecher ist. Der Variante liegt wohl eine Tradition zugrunde, wonach Lukas, der (angebliche) Verfasser der Apg, aus Antiochia stammte. Nicht ausgeschlossen ist auch, dass die Schreiber der Textvariante nachträglich Saulus oder Barnabas als Sprecher auftauchen ließen oder − nimmt man die Ursprünglichkeit der Textvarante an - der Verfasser der Apg einen ihn bereits vorliegenden Wir-Bericht in seine Erzählung eingeflochten hat. Dass Saulus und Barnabas Augenzeugen des Geschehens waren, legt sich nahe, weil sie bei der Mission in Antiochia aktiv waren und somit auch namentlich genannt werden.

 

Das Eintreten des Vorhergesagten wird bekräftigt. Wenn die große Hungersnot in die Herrschaftszeit des Kaisers Claudius fiel, so heißt das nicht zugleich, dass auch die Vorhersage in der Herrschaftszeit des Claudius erfolgte. Erstens wird nämlich nicht gesagt, in welchem Jahr die Hungersnot eintrat, und zweitens bleibt offen, wie viel Zeit zwischen der Vorhersage und dem Eintreffen des Vorhergesagten verstrichen ist.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 29

 

Beobachtungen: Der Verfasser der Apg führt nicht die Bezeichnung "Christianer/Christen“ ("Christianoi“) für die Christusgläubigen fort, sondern benutzt die Bezeichnung "Jünger/Schüler“ ("mathêtai“). Das hängt wohl damit zusammen, dass "Christianer/Christen“ eine von Nicht-Christusgläubigen benutzte Fremdbezeichnung war, die Christusgläubigen sich jedoch selbst "Jünger/Schüler“ nannten (vgl. 11,26).

 

Das Verb "hôrisan“ kann "sie bestimmten“ oder "sie setzten fest“ bedeuten. Bestimmt oder festgelegt kann die von jedem zu zahlende Geldsumme worden sein, aber auch das Schicken der Kollekte. Erstere Möglichkeit ist wahrscheinlicher, weil die Formulierung "so viel er zu geben imstande war“ nur mit einem dazugehörigen Verb verständlich ist.

Das Verb steht wohl deshalb im Plural, weil die bestimmende oder festlegende Gruppe aus mehreren Personen bestand.

 

Weiterführende Literatur: Mit Getreideknappheit im 1. Jh. n. Chr., den sozialen Auswirkungen einer Hungersnot, den Reaktionen der Behörden und den Reaktionen der Christen befasst sich B. W. Winter 1994, 59-78. In 11,29-30 werde eine Haltung gegenüber Almosen und guten Werken deutlich, die Nicht-Christen als revolutionär erscheinen konnte. So sei die Rolle des Wohltäters in der Not nicht nur vermögenden Gemeindegliedern zugekommen, sondern allen Gemeindegliedern, die arbeiten konnten. Die gesamte Gemeinde sei dazu aufgerufen gewesen, allen Menschen Gutes zu tun, insbesondere den eigenen Glaubensgenossen.

 

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V. 30

 

Beobachtungen: Bisher waren "Älteste“ ("presbyteroi“) nur als Bezeichnung für ein jüdisches Leitungsgremium aufgetaucht (vgl. 4,5.8.23; 6,12). In 11,30 wird erstmals in der Apg die Bezeichnung für ein (juden)christliches Leitungsgremium benutzt. Hat ein solches (juden)christliches Leitungsgremium bisher keine Rolle gespielt und ist deswegen nicht erwähnt worden oder ist es im Laufe der Geschichte neu entstanden? Sollte letzteres der Fall sein, so ist zu fragen, ob es sich aus einem bereits bestehenden Gremium entwickelt hat, oder ob es völlig neu entstanden ist. Es kann auch ein bereits bestehendes Gremium umbenannt worden oder gänzlich in dem Gremium der "Ältesten“ aufgegangen sein. Als Vorgängergremium ist an erster Stelle an die "Apostel“ zu denken, die in 4,32-5,11 ebenfalls als Empfänger von Geld genannt werden. Ebenso mit finanziellen und darüber hinaus auch mit sozialen Belangen befasst waren die sieben Männer, die später für die Versorgung auch der hellenistischen Witwen bestimmt wurden (vgl. 6,1-6). Fraglich ist, ob diese beiden Gremien über einen längeren Zeitraum mit finanziellen (und sozialen) Belangen befasst blieben. Die Apostel erscheinen nämlich − wie insbesondere Petrus in der Kornelius-Episode (10,1-11,18) - im weiteren Verlauf der Erzählung eher als Prediger des Wortes Gottes und als mit Fragen des Glaubens und der Mission Befasste (vgl. 15). Und ob die sieben Männer als Gremium die Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war (vgl. 8,1.4; 11,19), überdauerten, ist unklar. Zumindest hört man von ihnen als Gremium nichts mehr. Wenn beide Vorgängergremien nicht mehr für finanzielle (und soziale) Angelegenheiten infrage kamen, liegt es nahe, dass nach jüdischem Vorbild − oder auch nach hellenistischem, denn auch in der hellenistischen Welt gab es "Älteste“ − ein neues Gremium geschaffen wurde, das sich mit solchen Belangen befasste.

 

Barnabas und Saulus kamen wohl deswegen als Überbringer des Geldes infrage, weil sie einerseits beim Gemeindeaufbau in Antiochia eine wichtige Rolle spielten, andererseits aber auch den Aposteln bekannt waren und bei diesen Vertrauen genossen (vgl. Beobachtungen zu 11,22.25), zumal Barnabas schon mal den Aposteln Geld übergeben hatte (vgl. 4,37).

 

Die Kollekte − auch wenn nicht ausdrücklich Geld erwähnt wird, dürfte es sich doch wohl um eine Geld- und nicht um eine Sachspende gehandelt haben − erfolgte als unmittelbare Reaktion auf die Hungersnot. Es kam nur eine räumlich begrenzte Sammlung in den Blick, nicht eine groß angelegte auch in anderen Städten. Insofern ist fraglich, ob es sich bei der Kollekte um diejenige handelte, die Saulus (= Paulus) im Rahmen seiner Missionsreisen für die "Armen“ bzw. "Heiligen“ in Jerusalem einsammeln ließ (vgl. Gal 2,10; 1 Kor 16,1-4; 2 Kor 8-9; Röm 15,25-29). Die in Apg 11,29-30 erwähnte Kollekte scheint aufgrund der Solidarität der antiochenischen Christen mit den notleidenden Judenchristen in Jerusalem und Judäa erfolgt zu sein. Dabei spielt keine Rolle, ob die Spenden den Heiden- oder Judenchristen galten. Dass von keinerlei Spannungen die Rede ist, mag daran liegen, dass der Verfasser der Apg die kirchliche Einheit betonen will.

 

Die Reise nach Jerusalem zwecks Übergabe des Geldes erwähnt Saulus (= Paulus) in Gal 1,15-2,10, wo er sein Tun von seiner Bekehrung zu Christus bis hin zur Apostelversammlung in Jerusalem schildert, nicht. Beide dort erwähnten Besuche erfolgten nur, weil Saulus Kephas (= Petrus) kennenlernen wollte bzw. Missionsangelegenheiten zu regeln waren. Wie lässt sich das Fehlen eines Hinweises auf die Übergabe der Kollekte der antiochenischen Gemeindeglieder in Gal 1,15-2,10 erklären? Möglich ist, dass die Übergabe des Geldes nicht der einzige Reisegrund des Saulus und Barnabas war. Dann würde Apg 11,29-30 den einen und Gal 1,15-2,10 den anderen Reisegrund nennen. Die Uneinheitlichkeit bezüglich der Nennung des Reisegrundes würde verschleiern, dass die Reise zwecks Übergabe der Kollekte mit einer der beiden in Gal 1,15-2,10 genannten Reisen identisch war. Möglich ist aber auch, dass Saulus in Gal 1,15-2,10 nur deshalb die Reise zwecks Übergabe der Kollekte nicht erwähnte, weil es ihm dort nur darum ging, die Unabhängigkeit seines missionarischen Wirkens von Jerusalem darzulegen. Die Kollektenübergabe spielte in dieser Hinsicht keine Rolle. Diese ganz spezifische Aussageabsicht kann auch als Begründung für die Nennung verschiedener Reisegründe herangezogen werden, wie sie die erste Annahme voraussetzte. Als dritte Begründung kommt in Frage, dass Saulus von einer solchen in Apg 11,29-30 erwähnten Kollektenübergabe nichts wusste, der Bericht des Verfassers der Apg also nicht den geschichtlichen Tatsachen entspricht. Vielleicht fügte er die fiktive Notiz nur deshalb ein, weil er das solidarische Zusammenhalten der frühen Christen unterstreichen und herausstellen wollte, dass Saulus bei der Wahrung kirchlicher Eintracht eine besondere Rolle spielte. Dementsprechend wäre auch das spätere, in der Apg geschilderte heidenmissionarische Wirken des Saulus im Lichte kirchlicher Eintracht zu sehen.

 

Weiterführende Literatur: R. Trevijano Etcheverría 1997, 295-339 legt dar, dass Apg 9,26-30 auf den authentisch paulinischen Informationen über den ersten Besuch in Jerusalem Gal 1,18-19.21 gründe. Den zweiten, in Gal 2,1-10 thematisierten Besuch in Jerusalem, der die Beschneidungsfrage zum Inhalt gehabe habe, teilten Apg 11,27-30; 12,25 und 15 in zwei (oder sogar drei) Reisen auf. Sei in Gal 2,1-10 von der privaten Vorlage des Evangeliums und von der Übereinkunft mit den Jerusalemer Gemeindeleitern die Rede, so habe bei Lukas eine Reise die Übergabe der antiochenischen Kollekte und die andere Reise die Anerkennung der paulinischen Mission durch eine Apostelversammlung zum Thema. Dabei füge Lukas das "apostolische Dekret“ ein, zu dem es jedoch erst nach dem "antiochenischen Zwischenfall“ (Gal 2,11-14) komme. Die Heidenmission des Petrus (Apg 10,1-11.18; 15,7-9) und die erste Missionsreise des Barnabas und Paulus (Apg 13-14) seien zeitlich nach der Übereinkunft von Jerusalem anzusetzen.

 

B. W. Longenecker 2004, 185-204 befasst sich mit der Bewerkstelligung möglichst fließender Übergänge von einem Abschnitt zum anderen seitens antiker Rhetoriker. So habe man textliche Verdichtungen oder Streckungen oder gar Lücken zu vermeiden versucht, indem man die Inhalte der aufeinander folgenden Abschnitte wie zwei Kettenglieder ineinander übergehen ließ. Dies habe durch Überschneidungen thematischer Art geschehen sollen. Auch Lukas mache sich diese Technik zu eigen, und zwar bei den Übergängen von Lk zu Apg, von Apg 7 zu 8,1b-2, von 11,27-30; 12,1-24 und 12,25 zu 13,1 und von 19,21-22 zu 19,23-41. Im Einzelnen befasst sich B. W. Longenecker mit den Kettengliedern entsprechenden Verbindungen von 11,27-30; 12,1-24; 12,25 und 13,1.

 

 

Literaturübersicht

 

Delebecque, Édouard; Saul et Luc avant le premier voyage missionnaire. Comparaison des deux versions des Actes 11,26-28, RSPhTh 66/4 (1982), 551-559

Longenecker, Bruce W.; Lukan Aversion to Humps and Hollows: The Case of Acts 11.27- 12.25, NTS 50/2 (2004), 185-204

Pesch, Rudolf; Das Jerusalemer Abkommen und die Lösung des Antiochenischen Konflikts. Ein Versuch über Gal 2, Apg 10,1-11,18, Apg 11,27-30; 12,25 und Apg 15,1-41, in: P.-G. Müller [Hrsg.], Kontinuität und Einheit, FS F. Mußner, Freiburg i. Br. 1981, 105-122

Trevijano Etcheverría, Ramón; El contrapunto lucano (Hch 9,26-30; 12,25 y 15,1-35) a Gal 1,18-20 y 2,1-10, Salm. 44/3 (1997), 295-339

Winter, Bruce W.; Acts and Food Shortages, in: D. W. J. Gill, C. Gempf [eds.], The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting (The Book of Acts in Its First Century Setting 2), Grand Rapids, Michigan − Carlisle 1994, 59-78

 

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