Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Erster Thessalonicherbrief

Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher

1 Thess 2,13-16

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

1 Thess 2,13-16

 

 

Übersetzung

 

1 Thess 2,13-16:13 Und darum danken wir auch Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr, als ihr [das] von uns verkündigte Wort Gottes empfingt, es nicht als Menschenwort annahmt, sondern - was es in Wahrheit ist - als Gotteswort, das sich nun in euch, den Glaubenden, wirksam erweist. 14 Ihr seid nämlich, Geschwister, Nachahmer der Gemeinden (des) Gottes in Judäa geworden, die in Christus Jesus sind; denn ihr habt von den eigenen Landsleuten dasselbe erlitten wie jene von den Juden, 15 die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben, die Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, 16 indem sie uns hindern, den Heiden zu ihrer Rettung zu predigen. So machen sie das Maß ihrer Sünden unablässig voll. Es ist aber schon der ganze Zorn über sie gekommen.

 

 

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V. 13

 

Beobachtungen: Nachdem Paulus, Silvanus und Timotheus in 2,1-12 an ihr untadeliges Wirken in Thessalonich erinnert haben, gehen sie wieder zum Dank für das Verhalten der Thessalonicher über. Sie schließen dabei an 1,5 und 2,4 an, wo jeweils davon die Rede ist, dass das Wort nicht allein als (trügerisches) Menschenwort verkündet und empfangen wurde. Die Aufnahme der Predigt als Gotteswort ist die Voraussetzung für deren Wirksamkeit. Für das Wirken des Gotteswortes in den Thessalonicher Gemeindegliedern sind die Missionare deshalb besonders dankbar, weil sie selbst die Thessalonicher ermahnt, getröstet und beschworen haben, ihr Leben würdig des Gottes zu führen, der sie berufen hat zu seinem Reich und zu seiner Herrlichkeit (vgl. 2,12).

 

Weiterführende Literatur: Zu Fragen der Einheitlichkeit des Ersten Thessalonicherbriefes mit besonderer Berücksichtigung auch von 2,13-16 siehe R. F. Collins 1984, 96-135.

 

R. Trevijano Etcheverría 1985, 263-291 legt anhand von 1 Thess 1,1-2,16 dar, wie Paulus mittels seiner Briefe in Zeit und Raum seine Lehre bei den christlichen Konvertiten verbreitet.

 

Zum erneuten Dank: R. F. Collins 1984, 358-359 weist darauf hin, dass die erste Danksagung (1,2-2,12) den Schwerpunkt auf die Kraft des Evangeliums als Zeichen der göttlichen Erwählung der Thessalonicher lege, wogegen es in der zweiten Danksagung (2,13) in erster Linie um die Aufnahme des Evangeliums seitens der Thessalonicher gehe.

Zu den Danksagungen in 1 Thess 1-3 siehe auch J. Lambrecht 1990, 183-205.

 

S. Kim 2005, 519-542 stellt heraus, dass Paulus in 1 Thess 1-3 an fünf Stellen (1,5; 1,9-10; 2,1.13; 3,6) den Erfolg des Evangeliums und den Glauben der Thessalonicher mit seinem "Eingang“ ("eisodos“) verbinde. Diese Beobachtung stelle den Schlüssel zur Deutung von 1 Thess 1-3 und insbesondere 2,1-12 dar. 2,1-12 sei nicht in erster Linie paränetisch, sondern apologetisch zu verstehen. S. Kim sieht in 1 Thess 2,1-12 und 2 Kor 1-7 eine enge Parallele, insbesondere hinsichtlich des Nachweises der Integrität des apostolischen Dienstes des Paulus auf dem Hintergrund des Wirkens verschiedenster Wanderprediger, denen zum Teil Geldgier, Ruhmsucht und rhetorische Kniffs wie Schmeichelei vorgeworfen worden seien. Der Nachweis seiner apostolischen Integrität diene Paulus zur Stärkung der Thessalonicher Christen gegenüber nichtchristlichen Gegnern, die seine Integrität infrage gestellt hätten. Außerdem solle die Verkündigung des Evangeliums seitens der Adressaten angeregt werden. Dem Gedanken der Vorbildfunktion des Paulus komme dagegen − anders als verschiedentlich angenommen − in 1 Thess 2,1-12 keine besondere Bedeutung zu.

Ein leicht verständlicher Überblick über das Wirken von Philosophen, Rhetoren, Epigrammatikern, Goeten (Magiern) und Scharlatanen im antiken Thessalonich findet sich bei C. vom Brocke 2001, 143-151. Weitere Literatur dazu siehe 1 Thess 2,1-12.

 

R. F. Collins 1984, 218-219 zum Wirken des Wortes Gottes in den Glaubenden.

 

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V. 14

 

Beobachtungen: "Geschwister“ meint hier nicht leibliche Geschwister, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv "adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit "Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die "Schwestern“ eingeschlossen. Dass diese unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.

 

Die Wirksamkeit des Gotteswortes in den Thessalonicher Gemeindegliedern zeigt sich darin, dass sie für ihren Glauben gelitten haben. Da auch die Christen Judäas Leid erfahren haben, sind die Thessalonicher deren Nachahmer. Der einzige Unterschied ist, dass die Christen in Judäa unter den Juden gelitten haben, die Thessalonicher jedoch unter den eigenen Landsleuten, den Heiden. Wenn die "Heiden“ die "Landsleute“ der Adressaten sind, dann ist daraus zu schließen, dass die meisten oder alle Thessalonicher Gemeindeglieder Heidenchristen sind.

 

Die Gemeinden Judäas werden als "Gemeinden Gottes, die in Christus Jesus sind“ bezeichnet. Die Formulierung kennzeichnet sie als wahrhaft christliche Gemeinden, wobei sich deren wahrhaft christlicher Charakter in ihrem Leiden aufgrund ihres Glaubens zeigt. Über die Art und Weise des Leidens wird nichts ausgesagt.

 

Weiterführende Literatur: An 1 Thess 1-3 lasse sich gemäß J. Bickmann 1998 zeigen, dass Leid- und Todeserfahrungen der frühesten Christusgläubigen nicht dadurch ihre identitätsgefährdende Kraft verloren haben, dass diese Menschen sich zu Jesus als dem Christus bekannten. Zugleich lasse sich aber an 1 Thess herausstellen, wie einer solchermaßen in die Krise geratenen Gemeinde durch ihren Gründer und Lehrer im Brief ein Weg gebahnt wird, angesichts des Glaubens an die Auferstehung Jesu und der Christusgläubigen Sterben und Tod nicht zu bagatellisieren, sondern in der Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und im Widerstand gegen sie Trost zu erfahren. Wie in 1 Thess diese Auseinandersetzung durch Lektüre geschieht, solle in den Analysen vor allem zu 1 Thess 1-3 gezeigt werden. Auf S. 213-214 legt sie dar, dass 2,13-16 die Implikation der vorhergehenden Aussagen verstärke, wonach die Leiderfahrung, die die Identität des Lesers des Briefes gefährde, als eine von Anfang an gewusste erinnert werde − und damit zwar nicht relativiert, aber doch als etwas gekennzeichnet werde, das verarbeitet werden kann.

 

Ausgehend von der Frage, ob es im NT antijudaistische Passagen gibt, legt G. Baumbach 1983, 69-70 dar, dass von vielen zwar 1 Thess 2,14-16 als unecht verdächtigt und einem nachapostolischen Autor zugeschrieben werde, sich diese Passage jedoch gut mit den negativen Missionserfahrungen des Paulus erklären lasse. Dabei spiele auch Selbsthass eine Rolle: Der einstige Verfolger der Christen projiziere den Hass, den er im Blick auf die Vergangenheit hegt, auf die Christus ablehnenden Juden und belaste diese mit seinem Trauma. Im Folgenden setzt sich G. Baumbach mit zahlreichen weiteren Stellen des NT auseinander.

Einen guten Einstieg in die Problemlage und die verschiedenen vorgebrachten Theorien ermöglicht J. C. Hurd 1986, 21-36, der selbst den Text für paulinisch hält. Kurz zu bisherigen Lösungsversuchen siehe auch P.-G. Müller 1989, 58-60. Intensiv auf die Diskussion, ob es sich bei 2,14-16 um einen sekundären Einschub handelt, (> Interpolationshypothese), geht auch I. Broer 1990, 137-148 ein, der der Interpolationshypothese kritisch gegenüber steht. Ähnlich I. Broer 1983, 59-91 nach einem kurzen Überblick über Beispiele frühchristlicher Judenfeindlichkeit. In 1 Thess 2,14-16 liege die Polemik eines noch nicht vom Judentum getrennten "Christentums“ gegen die sich seiner Botschaft verweigernden Juden dar. Eine Übernahme der Aussagen in das Christentum nach der Trennung vom Judentum führe zu einer erheblichen Sinnverschiebung. Auch T. D. Still 1999, 24-44 geht intensiv auf die Diskussion um die Interpolationshypothese ein, wobei er die Vertreter der verschiedenen Thesen aufzählt. Auch T. D. Still sieht keine Notwendigkeit, den Text für unpaulinisch zu halten. T. Baarda 1984, 19-39 geht auf die verschiedenen Interpolationstheorien ein und setzt sich mit ihnen kritisch auseinander. Er selber vertritt die Meinung, dass der Text paulinisch sei.

G. E. Okeke 1980/81, 127-136 befasst sich mit den Argumenten der Befürworter der These, dass es sich bei 1 Thess 2,14-16 um einen nichtpaulinischen Einschub handele, und vergleicht die Aussagen dieses Textes mit Röm 9-11. Ergebnis: 1 Thess 2,14-16 sei in der Annahme der nahen Wiederkunft Christi geschrieben. Im Römerbrief dagegen werde der Unglaube der Juden thematisiert. Da es Gottes Absicht sei, alle Menschen in Jesus Christus mit Gott zu versöhnen, sei die vorerst nicht eintreffende Parusie Christi eine Gelegenheit, die Missionsbemühungen zu verstärken, so dass sich die Juden schließlich doch noch bekehren und Gottes Gnade erfahren. Es sei nicht angemessen, aufgrund inhaltlicher Differenzen zwischen beiden Texten darauf zu schließen, dass 1 Thess 2,14-16 ein nichtpaulinischer Zusatz sei. Allerdings sei es auch nicht angebracht, beide Texte zu harmonisieren. J. W. Simpson 1990, 42-72 knüpft an G. E. Okekes Betonung des eschatologischen Charakters des Textes an, wobei er betont, dass das Gericht bereits erfolgt sei. Die judenfeindlichen Aussagen seien nicht ohne weiteres auf die Gegenwart übertragbar, denn die Schärfe der verbalen Angriffe sei mit der zeitlichen Nähe der Auseinandersetzung mit den Juden zu begründen. Von ihrer Frühzeit an habe sich die Kirche in Abgrenzung zu den Juden definiert. Eingehend mit der apokalyptischen Perspektive des Textes befasst sich K. P. Donfried 1984, 242-253, der ihn als eine Vertiefung von 1 Thess 1, insbesondere 1,6-9 mit den zentralen Themen "Nachahmung“ und "Bedrängnis“ versteht. Er zieht als Parallelen Apg 17 und Lk 11,47-52 heran und widmet sich schließlich dem Begriff "Zorn“ bei Paulus. 1 Thess 2,14-16 widerspreche inhaltlich nicht Röm 9-11, denn Differenzen seien mit den verschiedenen Lebenssituationen in Thessalonich und Rom zu erklären, die Paulus berücksichtigt habe. K. P. Donfried geht auch kritisch auf D. Schmidt 1983, 269-279 ein, der die Meinung vertritt, dass einerseits inhaltliche und formale Argumente dafür sprächen, V. 14-16 als nichtpaulinisch auszuscheiden, andererseits linguistische Argumente. Laut D. Schmidt entsprächen die zentralen Begriffe, nicht jedoch der Stil, dem Ersten Thessalonicherbrief. Der sekundäre Einschub sei in die Zeit nach 70 n. Chr. zu datieren. K. P. Donfried begründet dagegen die stilistischen Unterschiede nicht mit einem sekundären Einschub, sondern mit der Benutzung traditionellen und formelhaften Materials durch Paulus. Ähnlich äußert sich G. Lüdemann 1983, 22-27. Mit D. Schmidts Argumenten setzt sich auch J. A. Weatherly 1991, 91-98 kritisch auseinander. Er hält dessen Anwendung der Methoden für problematisch. Der Stil von 2,14-18 entspreche unzweifelhaft paulinischen Texten. Angesichts der Tatsache, dass die Textzeugen eindeutig für die Authentizität der umstrittenen Passage sprächen und sich keine Mehrheit der Argumente für die Annahme eines sekudären Einschubes finde, sei 2,14-18 als paulinisch anzusehen. B. C. Johanson 1995, 519-534 kritisiert D. Schmidts Ansatz als zu eindimensional von der syntaktischen Dimension ausgehend. Vielmehr sei eine multi-dimensionale textlinguistische Analyse erforderlich.

B. C. Johanson 1987, 96-98 merkt an, dass möglich sei, dass der direkte verbalen Angriff auf die Juden einen Schutz der Thessalonicher Christen darstellt. Da die Gefahr bestehe, dass der Brief in die Hände der heidnischen Landsleute der Thessalonicher Christen gerät, dürften diese nicht zu direkt genannt werden. So komme es, dass der verbale Hauptangriff scheinbar den Juden gilt, von denen die Adressaten weniger zu befürchten haben. Tatsächlich gelte er jedoch den heidnischen Landsleuten. Auf S. 169-172 setzt sich B. C. Johanson kritisch mit Versuchen auseinander, die Uneinheitlichkeit des Ersten Thessalonicherbriefes zu beweisen. Seine linguistische und rhetorische Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass Interpolations- und Kompilationstheorien haltlos seien.

C. J. Schlueter 1994 stellt dagegen hinsichtlich des verbalen Angriffs gegen die Juden die These auf, dass es sich bei der überzogen negativen Darstellung des Gegners um ein der antiken Welt geläufiges rhetorisches Stilmittel handele, mit dem Paulus die Leser auf seine Seite ziehe. Belege aus anderen Paulusbriefen zeigten sogar, dass Paulus gegenüber christlichen Gegnern mindestens gleich harte Worte gewählt hat. Röm 9-11 sei kein Widerspruch zu 1 Thess 2,14-16, sondern die Unterschiede seien damit zu erklären, dass Paulus in Röm 9-11 nicht jüdische Widersacher angreift, sondern den göttlichen Plan darlegt. 1 Thess 2,14-16 sei auch kein Beleg für die Trennung von zwei Religionen, sondern ein Beleg für eine lebendige und fortgesetzte Beziehung zwischen Glaubensgenossen. Auch N. S. Murrell 1994, 169-186 geht von der Möglichkeit aus, dass Paulus übertriebene Rhetorik benutzte, wie es dem antiken Brauch entsprach. Allerdings lehnt er − in Abgrenzung zu anderen Auslegern - es ab, den menschlichen Paulus zu "zensieren“ und ihm und/oder seiner Dogmatik alle Briefe und Textpassagen abzusprechen, die uns heute anstößig erscheinen. So liege in 2,15-16 nicht nur übertriebene Rhetorik, sondern auch ein emotionaler Ausbruch des Ärgers angesichts eines theologischen Problems in einer jüdisch-christlichen Gemeinschaft vor. Dessen Inhalt dürfe nicht von der Theologie des Paulus getrennt werden. G. M. Smiga 1994, 187-190 dagegen ist in seiner Antwort auf N. S. Murrell der Ansicht, dass dieser den Widersprüchen zur sonstigen Theologie des Paulus zu wenig Gewicht einräume. Diese ließen sich allerdings damit erklären, dass sich Paulus darüber erregt, dass die Juden nicht nur nicht an Jesus Christus, den Messias, glauben, sondern darüber hinaus die christliche Mission zu verhindern suchen. Auch J. G. Gager 1983, 255-256 vertritt die Ansicht, dass der Text nichts über das wirkliche Verhältnis des Paulus zu den Juden aussage. Erstens sprächen mehrere Argumente für einen sekundären Zusatz, zweitens sei bei Annahme der paulinischen Herkunft der Aussagen anzunehmen, dass es sich um einen situationsbezogenen Ausdruck des Ärgers über den Widerstand der Juden handelt.

P.-G. Müller 1989, 61-64 geht davon aus, dass Paulus Jude bleiben wolle. 1 Thess 2,14-16 sei auf dem Hintergrund der Selbstbeschimpfung und Verfluchung zu sehen. Für den Fall, dass Israel nicht ausschließlich und rein seinem Gott dient, sondern sich andern Göttern und Unglauben hingibt, kenne das AT wie auch das nachbiblische Judentum eine große Palette massiver Selbstbeschimpfungen, drastische Schmähreden und Verfluchungen, auf die Paulus offensichtlich zurückgreife, um seine eigene Glaubensentscheidung hin zum christologischen Judesein einem im vorchristlichen Judentum verharrenden Gegner gegenüber zu verteidigen. Abschließend legt P.-G. Müller die Traditionselemente der Judenpolemik dar.

 

Den von Paulus in 2,14-16 benutzten Traditionen widmet sich K. Haacker 1988, 406-412, der die Ansicht vertritt, dass sie vor allem alttestamentlich, frühjüdisch und urchristlich seien. Die Judenkritik erinnere aber auch eindeutig an Motive der Polemik gegen die Juden in der heidnischen Umwelt. Auf solche "Anleihen“ bei den Parolen des heidnischen Antijudaismus geht K. Haacker ein, wobei er vermutet, dass die "Anleihen“ für die Leser des Briefes erkennbar waren. Zur Traditionsgeschichte siehe auch O. Michel 1986, 202-210 und J. A. Weatherly 1994, 176-194 der nach der Herkunft des Vorwurfes, dass die Juden Jesus getötet haben, fragt und untersucht, inwieweit das von Lukas benutzte Traditionsmaterial dem von Paulus benutzten gleicht. Ergebnis: Lukas habe vermutlich nicht direkt 1 Thess 2,14-16 oder die diesem Text zugrunde liegende Tradition übernommen, sondern nur Bestandteile der gängigen christliche Lehre. Zur Frage, inwiefern es sich bei dem Vorwurf, die Juden seien allen Menschen feindlich, um einen heidnischen antijüdischen Topos handelt, äußert sich T. Baarda 1984, 45-47, zum Topos des jüdischen Unglaubens S. Légasse 1997, 572-591. Im Hinblick auf heidnischen Antijudaismus siehe auch E. Stegemann 1996, 111-112. R. Kampling 1993, 186-187 steht der These, dass es Paulus mit der Menschenfeindlichkeit der Juden einen heidnisch-antijüdischen Topos aufgenommen habe, kritisch gegenüber. Mit der Existenz von heidnischen Texten, die inhaltliche Parallelen aufweisen, sei noch nicht erwiesen, dass Paulus oder die Empfänger des Briefes diese Texte kannten. Knapp zu den verschiedenen antijüdischen Motiven siehe H. Frankemölle 1984, 73.

C. M. Tuckett 1990, 160-182 befasst sich mit den synoptischen Traditionen im Ersten Thessalonicherbrief und geht auf S. 165-167 auf diejenigen in 2,14-16 ein, v. a. Mt 23,29-39.

 

Zur tröstenden Absicht von 1 Thess 2,13-16 siehe J. Chapa 1994, 156-158; P. Wick 1994, 19-21, der im Folgenden die Auffassung vertritt, dass Paulus die Juden selber als Jude kritisiere und es sich somit um innerjüdische Kritik handele. Kritik nach innen falle gewöhnlich heftiger aus als Kritik nach außen, wobei die Judenkritik der Kirche im Laufe der Geschichte eine schändliche Ausnahme sei.

 

G. Theißen 1991, 331-359 geht ausführlich auf das Verhältnis von Judentum und Urchristentum ein. Dabei nennt er drei Modelle für eine Verhältnisbestimmung von Judentum und Urchristentum, geht dann auf paulinische Interpretationen des Verhältnisses von Juden und Christen ein und befasst sich abschließend mit der sozialen Realität von Judentum und Christentum. Auf S. 340 nennt er Gründe, warum die christliche Heidenmission auf den entschiedenen Widerstand jüdischer Diasporagemeinden stieß. Dieser Widerstand habe bei Paulus den Gedanken reifen lassen, die Juden lebten wie die Heiden in einem Unheilszustand. Allgemein zu polemischen Äußerungen des Paulus und zum gespannten Verhältnis zwischen Juden und Urchristen siehe auch H. Räisänen 1983, 262-263, der auch auf die Furcht der Juden eingeht, die Christen könnten ihnen die Gottesfürchtigen abwerben.

 

Zur zeitlichen Einordnung der Spannungen zwischen Juden und Christen: J. C. Hurd 1986, 21-36 setzt sich mit den Interpolationstheorien auseinander und kommt zum Schluss, dass 2,13-16 von Paulus’ apokalyptischer Hoffnung geprägt sei. Die Judenfeindlichkeit dieses Abschnittes nehme das Denken vorweg, das sich in der Folgezeit zunehmend unter den Christen verbreitet habe. N. Bockmühl 2001, 1-31 legt dar, dass die Befürworter einer Interpolationstheorie oftmals annehmen, dass es Verfolgungen der Judenchristen seitens der Juden erst nach 70, dem Ende des ersten jüdischen Krieges, gegeben habe. Dabei werde übersehen, dass es sie schon vorher gegeben hat. Die erste sei in das Jahr 36 zu datieren, die zweite in die Jahre 41-42, in denen Agrippa I. herrschte. Eine dritte Verfolgung der Judenchristen habe vermutlich "im achten Jahr des Claudius“ (48/49) stattgefunden, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur vermutlichen Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefes. Auf das Verhältnis zwischen der jüdischen Obrigkeit und den Christen Mitte des 1. Jhs. geht B. Reicke 1984, 145-152 - mit Bezug zum Ersten Thessalonicherbrief auf S. 148 - ein. B. Reicke sieht das Erstarken des Judentums aufgrund eines durch kaiserlichen Rechtsspruch gewonnenen Streites mit den Samaritanern als historischen Hintergrund der judenfeindlichen Aussagen Paulus’ an.

 

Zum Nachahmersein der Thessalonicher Gemeinde siehe H.-H. Schade 1984, 123-124. Weitere Literatur zur "Nachahmung“ (mimêsis) siehe 1 Thess 1,1.10.

Zur Teilhabe der Christen in Thessalonich und Judaea an den gleichen Bedrängnissen und am gleichen Leid siehe P. Iovino 1985, 49-52. Paulus betone die Einheit und Kontinuität des alten und des neuen Volkes Gottes und die Einheit der judenchristlichen und heidenchristlichen Kirche.

 

T. Söding 1997, 41 weist darauf hin, dass "Gemeinden Gottes“ als genitivus obiectivus und als genitivus subiectivus verstanden werden könne. Beides könne nicht voneinander getrennt werden. Einerseits hätten die Gemeinden Jesus Christus als ihre Mitte und ihren Grund, andererseits seien sie das eschatologische Aufgebot Gottes.

 

C. vom Brocke 2001, 155-166 befasst sich mit der Frage, wie der Begriff symphyletês ("Landsleute“) zu deuten ist. Zunächst setzt er sich kritisch mit der These von T. Holtz (Kommentar) auseinander, es handele sich nicht um die Angehörigen eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Religion, sondern um die Mitglieder des sozialen Lebensbereiches, dem die Thessalonicher zugehören. C. vom Brocke bemängelt die Unbestimmtheit des modernen Begriffes "sozialer Lebensbereich“. Er selbst kommt zu dem Ergebnis, dass die Bedrängung von denjenigen Bürgern ausgegangen sei, der Mitglieder derselben Phylen (Organisationsform der städtischen Gemeinden) gewesen seien wie die ersten Christen. So wie die Gemeinde nahezu ausschließlich eine heidenchristliche gewesen sei, so seien auch ihre Bedränger wohl ausschließlich Heiden und nicht Juden gewesen. Und ebenso wie ihre Verfolger hätten auch die Verfolgten zu den Vollbürgern der Stadt und damit zu derjenigen Schicht gehört, die in Bezug auf die politische Selbstverwaltung der freien Stadt Thessaloniki die tragende darstellte.

N. H. Taylor 2002, 784-801 stellt die gängige These in Frage, dass es sich bei den Thessalonicher Gemeindegliedern um Heidenchristen ohne Bezug zur jüdischen Synagoge handele. Außerdem sei anhand des Ersten Thessalonicherbriefes nicht sicher festzustellen, welcher Herkunft die Verfolger sind.

 

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V. 15

 

Beobachtungen: Die Vorwürfe gegen die Juden wirken recht pauschal. Die Juden werden als Gegner jeglichen Heils hingewiesen: Die Propheten haben das Wort Gottes verkündet und auf den kommenden Messias und sein Friedensreich hingewiesen und wurden dafür getötet. Jesus Christus, dem Messias selbst, haben sie nicht geglaubt und seinen Kreuzestod verschuldet. Nun verfolgen sie auch alle, die an Jesus Christus und das von ihm ausgehende Heil glauben.

 

Weiterführende Literatur: Zur Diskussion, ob mit der allgemeinen Formulierung "die Juden“ alle Juden oder nur eine bestimmte Gruppe gemeint sind, gibt S. Légasse 1997, 577-578 einen knappen Überblick. Er selbst vertritt erstere Meinung: der Topos des Unglaubens beziehe sich auf das ganze jüdische Volk. M. A. Rydelnik 2008, 58-67 ist anderer Ansicht: Mit den "Juden“ seien nur die jüdischen Führungspersönlichkeiten gemeint. F. D. Gilliard 1989, 481-502 weist darauf hin, dass die ältesten christlichen Handschriften in "lectio continua“ geschrieben wurden, also ohne Wort an Wort ohne Lücken und mit nur sehr wenigen Satzzeichen. Paulus habe vermutlich zwischen V. 14 und V. 15 kein Komma gesetzt. Dieses sei erst frühestens im 9. Jh. eingefügt worden und in altgriechische Bibelausgaben und Übersetzungen übernommen worden. Dadurch habe der Relativsatz V. 15 den Sinn bekommen, dass alle Juden gemeint sind. Lasse man im Altgriechischen das Komma weg, was angebracht sei, dann sei nur eine bestimmte Gruppe Juden im Blick und der Text verliere seinen antijüdischen Charakter. Ähnlich F. D. Gilliard 1994, 259-261. Zu beachten sei, dass von keinem der "großen“ und "kleinen Propheten“ in der Bibel ein gewaltsamer Tod berichtet wird und dass das AT nur zwei Propheten kennt, die eines solchen Todes starben (vgl. Jer 26,20-24; 2 Chr 24,17-22). Außerdem benutze Paulus die Begriffe "Prophet“ und "Prophetie“ nicht nur im Hinblick auf die Propheten der jüdischen Vergangenheit, sondern auch im Hinblick auf die eigenen zeitgenössischen christlichen Gemeinden. Den gewaltsamen Tod von Propheten der jüdischen Vergangenheit erwähne Paulus nur in Röm 11,3, wobei er aber ein konkretes Ereignis anspreche. Ausgehend von dem paulinischen (Gedächtnis-)Zitat von 1 Kön 19,10.14 kommt F. D. Gilliard zu dem Schluss, dass Paulus nicht davon gesprochen habe, dass die Juden ihre Propheten getötet haben. Vielmehr sei gemeint, dass die Juden Jesus und seine Propheten getötet haben. E. Verhoef 1995, 41-46 wiederum setzt sich kritisch mit der Argumentation auseinander und kommt zu dem abweichenden Ergebnis, dass alle Juden gemeint seien.

Gemäß R. Hoppe 2004, 535-549 zeige sich, dass Paulus in den je verschiedenen konkreten Fragestellungen von 1 Thess 2,13-16 und Röm 11,1-10 das Motiv vom verfolgten Propheten einsetzt, um die Durchsetzungsfähigkeit des Evangeliums aufzuweisen. Die vermeintlichen Gegensätze zwischen 1 Thess 2,13-16 und Röm 11 seien dahingehend einander zuzuordnen, dass es Paulus sowohl im 1 Thess als auch im Röm primär um die Wirkmächtigkeit des Evangeliums gehe, die die Behinderung der Rettung der Heiden überwinde (1 Thess) und Israel letztlich der Rettung zuführe (Röm 11).

 

Zur Frage des konkreten Angriffspunktes äußert sich T. Baarda 1984, 39-41. Paulus greife nicht das Volk oder die Religion an sich an, sondern die Tatsache, dass Juden bestreiten, dass die Christen das Gottesvolk, Israel, seien. Auf diese Weise würden die Leugner zum Anti-Israel innerhalb dessen, was Paulus als Israel ansieht. Auf S. 45-47 geht T. Baarda der Frage nach, inwiefern es sich bei dem Vorwurf, die Juden seien allen Menschen feindlich, um einen heidnischen antijüdischen Topos handelt.

 

G. Geiger 1986, 154-160 setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit 2,15-16 antisemitisch ist. Er definiert zunächst die Begriffe "Antisemitismus“ und "Antijudaismus“. "Antisemitismus“ sei eher ein profaner Begriff, der jede rassische, wirtschaftliche und politische Unterdrückung der Juden meint, der schließlich im 20. Jh. zur systematischen Ausrottung geführt hat. "Antijudaismus“ sei dagegen eher dem religiösen Bereich zuzuordnen und bezeichne jene Passagen der christlichen Literatur, in denen sich die Christen polemisch, ja herablassend und verurteilend vom Judentum unterscheiden (wollen). 2,15-16 sei also (wie das gesamte NT) im Hinblick auf Antijudaismus und nicht Antisemitismus zu untersuchen. G. Geiger vertritt die Ansicht, dass Paulus mit seiner äußerst scharfen Kritik ganz auf dem Boden eines eschatologisch denkenden Spätjudentums stehe. Der Text sei nicht normativ zu verstehen, sondern für die Geltung des Textes sei vor allem die heute längst nicht mehr vorauszusetzende eschatologische Schärfe zu berücksichtigen.

R. A. Wortham 1985, 37-43 berücksichtigt bei der Analyse des Antijudaismus in 1 Thess 2,14-16 sozialpsychologische und symbolanthropologische Gesichtspunkte. Verschiedentlich sei vorgebracht worden, dass Paulus Minderwertigkeitskomplexe gehabt haben könnte, weil sein sozialer Status als niedrig angesehen worden sei und er bei seinem missionarischen Dienst von verschiedener Seite mit Widerstand zu kämpfen gehabt habe. R. A. Wortham unterstreicht angesichts dieser Vermutungen, dass das Vorurteil des Paulus keinen rassischen, sondern einen religiösen Charakter habe. Paulus sei antijudaistisch eingestellt gewesen, nicht aber antisemitisch.

N. A. Beck 1985 widmet sich 1 Thess 2,13-16 in einem Buch, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, antijudaistische Passagen im NT aufzuspüren und zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit ihnen im heutigen Christentum anzuregen. Auf S. 76-84 kommt er von formkritischen und theologischen Gesichtspunkten her zu dem Ergebnis, dass der Text von einem der Theologie der Apostelgeschichte nahe stehenden Redaktor in den Paulusbrief eingefügt worden sei. N. A. Beck nennt verschiedene Möglichkeiten, wie mit diesem Text bei Bibelübersetzungen umgegangen werden kann, wobei er sich selbst für einen Kleindruck oder eine Fußnote, die auf die nachträgliche Zufügung der Verse hinweist, ausspricht. Im Hinblick auf die liturgische Praxis sollten die Verse entweder nicht erwähnt oder mit einem Kommentar versehen werden, der sie als Ärgernis darstellt. Auf S. 84-90 folgt eine Auseinandersetzung mit Einwänden gegen die vorgeschlagenen Vorgehensweisen. C. Perrot 1996, 297-299 hält dagegen eine Auslassung für zu weitgehend. Besser sei es, den Text als Bestandteil des NT zu sehen und sich der in ihm dokumentierten Verletzungen, die die Trennung des Christentums vom Judentum mit sich brachte, bewusst zu sein.

 

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V. 16

 

Beobachtungen: Es ist aus Sicht des Paulus, Silvanus und Timotheus schon schlimm genug, dass die Juden den Messias selbst getötet haben und alle diejenigen verfolgen, die ihn verkündigen oder an ihn glauben. Das Maß der Sünden wird aber dadurch unablässig voll, dass sie die Gläubigen - Paulus, Silvanus und Timotheus haben hier konkret sich selbst im Blick - hindern, den Heiden zu ihrer Rettung zu predigen. Die Rettung vor dem Zorn Gottes, der die Ungläubigen treffen wird, ist der einzige Aspekt des Heils, den die Missionare in 2,13-16 erwähnen, so dass es wohl der wesentliche ist (vgl. 1,9-10). Hintergrund des paulinischen Denkens im Ersten Thessalonicherbrief ist ein Dualismus: Auf der einen Seite sind die ungläubigen Heiden, die den Zorn Gottes zu erwarten haben, auf der anderen Seite sind die Christen, die durch Jesus Christus vor dem Zorn gerettet werden. Es kann also nur das Ziel der Missionare sein, den Heiden das Gotteswort zu predigen und sie zum Heil zu bekehren.

 

Die Formulierung "hina sôthôsin“ ist wörtlich mit "damit sie gerettet werden“ zu übersetzen. Ebenso ist aber auch die Übersetzung "zu ihrer Rettung“ möglich.

 

Es wird nicht präzisiert, wessen Zorn in V. 16 gemeint ist. Da in V. 15 von Gott die Rede war und in 1,10 vom kommenden Zorn Gottes, ist davon auszugehen

Verwunderlich ist, dass der Zorn über die Juden gekommen ist, noch bevor das Maß endgültig voll ist. Und es erstaunt auch, dass der Zorn schon über die Juden gekommen ist, obwohl 1,10 von einem "zukünftigen Zorn“ spricht und Paulus davon ausgeht, dass die Rettung in Zukunft erfolgen wird. Es ist daher davon auszugehen, dass der Zorn, der schon über die Juden gekommen ist, von dem Zorn am Ende der Tage, der alle Ungläubigen betreffen wird, zu unterscheiden ist. Bei dem schon erfolgten Zorn dürfte es sich um ein bestimmtes einmaliges geschichtliches Ereignis handeln (vgl. die Verbform im Aorist!), das die Juden betroffen hat. Nun ist fraglich, ob die Juden der Zorn Gottes "in vollem Maße / ganz“ oder "für alle Zeit“ getroffen hat, denn beide Übersetzungen des "eis telos“ sind möglich. Bei ersterer Übersetzung stellt sich Frage, wie es noch ausstehenden Zorn geben kann, wenn doch schon der "ganze Zorn“ über die Juden gekommen ist. Letztere Übersetzung würde nahe legen, dass es für die Juden keine Umkehrmöglichkeit gibt, da der Zorn ja bis zum Ende der Zeiten gilt. Da bliebe nur noch die Hoffnung, dass am Ende der Zeiten der Zorn der Versöhnung weicht, worauf aber 2,16 nicht hinweist.

 

Bei der Deutung der judenfeindlichen Aussagen ist zu bedenken, dass Jesus wie die Propheten und Paulus selbst ein Jude war und das Christentum aus dem Judentum erwachsen ist. Das Judentum ist Paulus nicht fern, sondern nah. Gerade aus diesem Grund ist es für ihn ein Ärgernis, dass das "Volk Gottes“ nicht an den Messias glaubt und die Verbreitung des Glaubens an ihn zu verhindern sucht. So lassen sich die Aussagen in 2,14-16 erklären, ohne einen sekundären Einschub und einen klaren Widerspruch zu Röm 9-11 annehmen zu müssen.

 

Weiterführende Literatur: Zur Aussage "Es ist aber schon der ganze Zorn über sie gekommen.“ siehe T. Baarda 1984, 49-56. E. W. Stegemann 1990, 54-64 legt dar, dass mit dem "Zorngericht“ nicht das eschatologische Gericht, sondern eine zeitliche Strafe gemeint sei. Solche Strafen entsprächen den Aussagen der hebräischen Bibel. Ähnlich W. Stegemann 1996, 106-112 in Anschluss an eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kommentar von T. Holtz.

Welches historische Ereignis kommt hinsichtlich des Zornes Gottes in Frage? Eine Aufzählung zahlreicher vorgebrachter Thesen bietet I. Broer 1990, 149-150, ein knapper Überblick über die Thesen findet sich auch bei R. Jewett 1982, 65-66.

I. Broer 1990, 151-152 vergleicht er die alttestamentliche Vorstellung vom Zorn Gottes über Israel mit derjenigen des Paulus und kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Zorn bei Paulus im Gegensatz zum AT in keinem Fall auf ein vergangenes geschichtliches Ereignis beziehe, sondern - auch wenn das Gericht manchmal schon in der Gegenwart ergehe - grundsätzlich zukünftig sei. Statt auf ein zeitgeschichtliches Ereignis bezieht I. Broer V. 16 auf die deuteronomistische Prophetenaussage über das ganze Gottesvolk. 1 Thess 2,14-16 sei Ausdruck des Ringens um Israel. Die Aussage wolle Israel aufs äußerste reizen − zur Bekehrung. Ähnlich H.-H. Schade 1984, 126-130, der die verschiedenen Traditionen voneinander abgrenzt. R. Hoppe 2002, 339-340 greift das deuteronomistische Deutungsmodell auf, demnach Paulus die Zukunft Israels offen halte, und macht deutlich, dass es zwischen 1 Thess 2,14-16 und Röm 11 eine Verbindung gebe. So werde in beiden Texten ausgesagt, dass göttliches Erwählungshandeln allen äußeren Bedrängnissen zum Trotz zuverlässig sei.

Auch B. C. Johanson 1995, 519-534 geht bezüglich 2,15-16 von prophetischer Sprache und prophetischem Stil aus. Er vertritt die These, dass es sich bei der Form bzw. der Gattung um den prophetischen Wehe-Spruch handele. Bei dem Verb "ist…gekommen“ handele es sich um einen proleptischen Aorist, der dramatische Funktion habe. So werde im Hinblick auf die Gerichtsansage der Wehe-Sprüche in der Septuaginta der Aorist oder das Futur gebraucht. So könne auch in V. 16 der Aorist futurisch mit "wird…kommen“ übersetzt werden. Gemeint sei also inhaltlich: Das Gericht wird letztendlich in vollem Maße über die Juden kommen.

 

H.-W. Kuhn 1992, 344-345 geht kurz auf Parallelen zu V. 16 innerhalb der Qumranschriften ein.

 

Zum Verhältnis von 1 Thess 2,14-16 zu Röm 9-11 und speziell 9,25-26 siehe T. Holtz 1990, 284-294, der betont, dass auch die Propheten, Jesus und Paulus selbst zum Volk Israel gehör(t)en. Zwischen den Aussagen des Ersten Thessalonicherbriefes und des Römerbriefes gebe es zahlreiche Parallelen, die gegen die Annahme eines Einschubs oder eines Wandels der paulinischen Theologie sprechen. Grundsätzlich halte Paulus sowohl die Heiden als auch die Juden im gegenwärtigen Zustand des Unglaubens für hoffnungslos, doch stehe ihnen die Möglichkeit der Bekehrung offen. In Röm 11,25-26 finde die zunehmend entwickelte Annahme Ausdruck, dass letztendlich das ganze Volk Israel gerettet wird.

 

Strukturelle und thematische Ähnlichkeiten zwischen dem Testament Levis 6 und 1 Thess 2,13-16 führen J. S. Lamp 2003, 408-427 zu der These, dass 1 Thess 2,13-16 keine unbedachte und emotionale anti-jüdische Polemik darstelle, sondern eine vernünftige − wenn auch leidenschaftlich überzeugte − Beurteilung der allgemein negativen Antwort der Juden auf Gottes Werk in Jesus Christus und andauernde Aktivität mittels des Dienstes der Apostel. Dieser Widerstand habe zu dem Punkt geführt, an dem Gottes Zorn im Gericht schließlich und endgültig auf die Juden gekommen ist.

 

P. W. Macky 1994, 169-186 versucht, den Zorn Gottes genauer zu bestimmen und kommt anhand von 1 Kor 5,5; 10,10; 2 Thess 2,9-11; 2 Kor 12,7 zu dem Ergebnis, dass Paulus der in Ijob 1-2 geäußerten Vorstellung des Satans als göttlicher Mittler, der die Menschen versucht und leiden lässt, folge. Entgegen der sich im zeitgenössischen Judentum durchsetzenden Annahme, dass der Satan ein mächtiger Widersacher Gottes sei, bleibe er bei Paulus Gott unterstellt. Wenn Paulus also vom Zorn Gottes spreche, so sehe er vermutlich den Satan als Vollstrecker am Werk. Dabei habe der Zorn eine disziplinarische Funktion, die die Menschen zur Umkehr führen soll. G. M. Smiga 1994, 190-192 hält diese These für richtig, kritisiert jedoch die Unterscheidung von "innerem gegenwärtigem Zorn“ (geistig) und "äußerem gegenwärtigem Zorn“ (körperlich). P. W. Macky gehe fälschlicherweise von einer aufgeschobenen körperlichen Strafe aus, da er eis telos mit "am Ende / schließlich“ übersetzt. Würde er mit "bis zum Ende“ übersetzen, so käme er zu dem richtigen Ergebnis, dass am Ende der Tage, wenn alle Heiden bekehrt sind, die Versöhnung Gottes mit den Juden erfolgt (vgl. Röm 11,25-26).

 

Zur Auslegung von 1 Thess 2,14-16 seitens der frühchristlichen Kirchenschriftsteller siehe R. Kampling 1993, 191-213.

 

 

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