Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Apostelgeschichte (Apg 21,18-26,32)

Apg 24,1-9

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Apg 24,1-9

 

 

Übersetzung

 

Apg 24,1-9:1 Nach fünf Tagen aber kam der Hohepriester Hananias mit einigen Ältesten und einem Anwalt, einem gewissen Tertullus, herab; sie zeigten (den) Paulus beim Prokurator an. 2 Nachdem er herbeizitiert worden war, begann (der) Tertullus mit der Anklage und sagte: "Dass wir durch dich rundum Frieden genießen und dank deiner Umsicht diesem Volk Verbesserungen zuteil geworden sind, 3 das erkennen wir überall und in jeder Hinsicht an, erlauchter Felix, mit großer Dankbarkeit! 4 Um dich aber nicht über Gebühr zu belästigen, bitte ich dich, uns in deiner Güte kurz Gehör zu schenken. 5 Wir haben nämlich festgestellt, dass dieser Mann eine Pest ist, (und) einer, der unter allen Juden auf der ganzen Welt Unruhe(n) schürt, ein Rädelsführer der Sekte der Nazoräer. 6 Er hat sogar versucht, den Tempel zu entweihen; dabei haben wir ihn ergriffen. 8 Im Verhör magst du selbst von ihm alles erfahren, dessentwegen wir ihn anklagen.“ 9 (Und) Die Juden bestätigten die Anklage und beteuerten, dass es sich so verhalte.

 

 

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V. 1

 

Beobachtungen: Aufgrund des seitens der Juden geplanten Anschlages auf Paulus hatte der Tribun Claudius Lysias Paulus von Soldaten von Jerusalem nach Cäsarea bringen lassen, wo nun ein ordentlicher Prozess vor dem dort residierenden Prokurator der römischen Provinz Judäa, Felix, erfolgen sollte. Damit war Paulus aus der unmittelbaren Gefahrenzone, in dem ihm die jüdische Selbstjustiz gedroht hatte, in den Bereich der römischen Rechtsstaatlichkeit gelangt. Claudius Lysias hatte die jüdischen Ankläger angewiesen, ihre Anklage dem Prokurator vorzubringen, weshalb diese nach Cäsarea reisen mussten und erst nach ihrem dortigen Eintreffen die Verhandlung vor dem Prokurator eröffnet werden konnte.

 

Das Verb "katabainô“ ("herabkommen/herabsteigen“) lässt sich damit erklären, dass Jerusalem im judäischen Bergland und damit höher gelegen war als die Küstenstadt Cäsarea. Die Ankläger mussten also von Jerusalem nach Cäsarea herabkommen. Darüber hinaus lässt das Verb möglicherweise die besondere religiöse Bedeutung der Stadt Jerusalem erkennen, die den Juden als erhaben galt.

 

Es fällt auf, dass die Delegation der Juden keine Mitglieder des Hohen Rates umfasste. Hielt man deren Beteiligung angesichts der ausreichenden Größe der Delegation für unnötig? Oder waren die Mitglieder des Hohen Rates unabkömmlich? Oder meinte man, dass die Unterstützung der Anklage vor dem Prokurator nicht die Aufgabe von Mitgliedern des Hohen Rates sei? Oder ließ man sie bei der Zusammenstellung der Delegation außen vor, weil sie sich zerstritten hatten, als der Tribun ihnen den Fall zur weiteren Informationsgewinnung übertragen hatte (vgl. 23,6-9)? Immerhin hatte der Streit dazu geführt, dass der Tribun eingeschritten war und Paulus wieder in die Kaserne zurückgeholt hatte, womit Paulus den Juden wieder entzogen war. Auch bestand die Gefahr, dass die Uneinigkeit auch vor dem Prokurator zutage treten und die Anklage der Juden schwächen würde. Schließlich bleibt auch noch als Möglichkeit, dass der Verfasser der Apg den Hohen Rat − oder zumindest einige Mitglieder des Hohen Rates - mit den Ältesten gleichgesetzt hat.

 

Eine Textvariante bietet "mit den Ältesten“ statt "mit einigen Ältesten“. Dieser Änderung mag die Verwunderung darüber zugrunde gelegen haben, dass nicht alle Ältesten mit nach Cäsarea gekommen sind, sondern nur einige. Tatsächlich scheint es aber nicht notwendig gewesen zu sein, dass alle Ältesten mitkamen, denn die Reise riss sie ja aus dem Alltagsleben heraus, stellte eine zeitliche und möglicherweise (aufgrund der Reisekosten und von Verdienstausfall) auch finanzielle Belastung dar und erforderte ausreichende Übernachtungsplätze.

 

Tertullus wird als "rhêtôr“, also als "Redner“, bezeichnet. Dabei hatte er jedoch eine ganz bestimmte Art der Rede zu halten, nämlich eine Anklagerede. Somit hatte er die Funktion eines Anwalts inne, was hier die Übersetzung "Anwalt“ nahe legt.

"Tertullus“ ist ein römischer Name, was zunächst nahe legt, dass es sich bei dem Ankläger nicht um einen Juden handelte. Als Nichtjude kann Tertullus durchaus die Anklage der Juden vor dem Prokonsul vorgetragen haben. Möglicherweise haben die Juden Tertullus nur zu diesem Zweck herangezogen, weil er ein besonders guter und vielleicht auch bekannter Anwalt war und dementsprechend gut die Sache der Juden vor Gericht vertreten konnte. Vielleicht wurde Tertullus zu diesem Zweck bezahlt. Der römische Name schließt allerdings nicht aus, dass Tertullus ein Jude war. In diesem Fall bliebe offen, ob er zu den Angehörigen des Hohenpriesters Hananias oder zu den Ältesten gehörte, ein Mitglied des Hohen Rates war oder nicht zu den jüdischen Amtsträgern gehörte.

 

Die Formulierung "nach fünf Tagen“ birgt zwei Unklarheiten: Erstens bleibt offen, von welchem Tag an die fünf Tage zu zählen sind, zweitens ist fraglich, ob der Tag, von dem an gezählt wird, mit eingeschlossen ist. Zur ersten Unklarheit: Am wahrscheinlichsten ist, dass von dem Tag der Ankunft des Paulus in Cäsarea an gerechnet wird. An dem Tag der Ankunft wurde Paulus sogleich dem Prokurator vorgeführt, der sich zum Termin des Prozessbeginns wie folgt äußerte: "Ich werde dich verhören, sobald auch deine Ankläger angekommen sind.“ (23,35). Demnach wären die Ankläger fünf Tage nach dieser Aussage des Prokurators in Cäsarea angekommen. Nach deren Ankunft konnte der Prozess eröffnet werden, was von 24,1-2 bestätigt wird. Zur zweiten Unklarheit: Der Wortlaut "nach fünf Tagen“ lässt zunächst daran denken, dass der Tag der Ankunft des Paulus in Cäsarea nicht eingeschlossen ist. Dass diese Deutung nicht über alle Zweifel erhaben ist, geht aus Mk 8,31 hervor, wo die Auferstehung Jesu "nach drei Tagen“ angekündigt wird, wobei die Zeitangabe gemäß Lk 9,22 im Sinne von "am dritten Tag“ zu deuten ist. Somit ist nicht ausgeschlossen, dass "nach fünf Tagen“ in Apg 24,1 im Sinne von "am fünften Tag“ zu deuten und der Tag der Ankunft des Paulus in die Rechnung einzubeziehen ist.

 

Dass der Zahl "Fünf“ hier eine symbolische Bedeutung zukommt, ist nicht zu erkennen. Aus ihr geht wohl nur hervor, dass es die Juden mit der Eröffnung des Prozesses gegen Paulus eilig hatten. Geht man nämlich davon aus, dass die Reise von Jerusalem nach Cäsarea zwei Tage dauerte (vgl. 23,31-33), dann hätten sie sich schon drei Tage nach (oder: am dritten Tag) der Ankunft des Paulus in Cäsarea auf den Weg gemacht. Innerhalb dieser drei Tage mussten alle Reisevorbereitungen getroffen und vermutlich auch der Anwalt gefunden werden, der die Sache vor dem Prokurator vertreten sollte.

 

Weiterführende Literatur: Zur Anklage des Paulus vor dem Prokurator Felix siehe B. Rapske 1994, 158-167. Der Anwalt Tertullus habe sicherlich dem Judentum nahe gestanden, sei vielleicht selbst Jude gewesen. Aus seinem Namen könne höchstens geschlossen werden, dass er Hellene war; dabei müsse er nicht unbedingt ein römischer Bürger gewesen sein.

 

H. S. Brown 1996, 319-332 untersucht das Wesen römischer Gerichtsakten, wie wir sie in den ägyptischen Papyri fänden. Er vergleicht diese Art Dokument mit Apg 24,1-23 und stellt sie diesem Bibeltext gegenüber, wobei er die Kriterien juristischer und forensischer Rhetorik mit Bezug sowohl zu den Papyri als auch zur Apg beleuchtet. Dann widmet er sich den Gerichtsprozessen in griechisch-römischen Erzählungen und verortet schließlich Apg 24 im zeitgenössischen Schriftgut. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Apg 24 weder ein historischer Bericht noch Berichten von Gerichtsprozessen entnommen sei. Vielmehr handele es sich um eine dramatische Darstellung der lukanischen Sichtweise der Anrufung des Kaisers, die viele Charakteristika tatsächlicher historischer Texte nachahme. Es seien Ähnlichkeiten mit literarisch konstruierten Darstellungen in griechisch-römischen Erzählungen festzustellen.

 

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V. 2

 

Beobachtungen: Bei den lobenden Worten der V. 2-3 dürfte es sich wohl um eine "captatio benevolentiae“ handeln, bei der die lobenden Worte dazu dienten, den bzw. die Adressaten wohlgesinnt zu stimmen und für das vorgebrachte Anliegen zu öffnen. Für das Vorliegen einer "captatio benevolentiae“ spricht neben römischen und hellenistischen rhetorischen Gepflogenheiten die Tatsache, dass Felix bei den Juden keinesfalls beliebt, sondern vielmehr verhasst war. Der gelobte "Friede“ dürfte in Wahrheit ein Friede im Sinne der "pax romana“ gewesen sein. So strebten die Römer nach ständiger Ausweitung ihres Reiches durch kriegerische Unterwerfung der Nachbarvölker, Besetzung deren Länder und Einrichtung von Provinzen. Diese Provinzen dienten nach römischem Verständnis dem Frieden und man war darauf bedacht, jeden Aufruhr im Keim zu ersticken. Die Aufrechterhaltung der Ordnung im Römischen Reich war nach römischem Verständnis also ein zentraler Aspekt des Friedens. Der Aufrechterhaltung dieses "Friedens“ hatte sich auch der Prokurator Felix verdient gemacht, denn er hatte einen politischen Umsturzversuch eines "falschen Propheten“ samt seiner bewaffneten Begleiter blutig niedergeschlagen. Ob Tertullus den politischen Umsturzversuch des "falschen Propheten“ guthieß oder nicht, ist nicht überliefert. Auch V. 2 macht darüber keine Aussage, denn die lobenden Worte des Tertullus sind vom Blickwinkel des Adressaten her zu verstehen. Aus Sicht des Adressaten Felix war der Umsturzversuch eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und musste somit zur Aufrechterhaltung des "Friedens“ niedergeschlagen werden. Tertullus musste seine Worte an dieser Sichtweise ausrichten, wollte er nicht von vornherein bei dem Prokurator Ablehnung hervorrufen. Tatsächlich dürften die Ankläger des Paulus die Römer als eine Besatzungsmacht angesehen haben, die nur in dem Maße respektiert wurde, wie sie den Juden ihr Recht auf Selbstbestimmung beließ. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Ankläger zu vermeiden versucht hatten, dass Paulus ihren Händen entrissen und der römischen Rechtsprechung übergeben wurde. Sie sprachen sich selbst das Recht zu, Paulus für seine Vergehen zu bestrafen.

 

Weiterführende Literatur: In der griechischen Antike sei die Massenkommunikation laut F. Siegert 1993, 42-58 nach ganz bestimmten Regeln und Gebräuchen abgelaufen, die sich deutlich von den heutigen unterschieden hätten. Es sei − anders als im heutigen Fernsehen − nicht nur um das reine Formulieren gegangen, sondern alle Redner und in der Öffentlichkeit auftretenden Personen hätten so großspurig, unbeholfen und eigenartig wie nur irgend möglich sprechen müssen. Um die Zuhörer faszinieren zu können, hätte es also einer ganz anderen Sprache als heutzutage bedurft. F. Siegert befasst sich mit den Bedingungen und dem Sitz im Leben öffentlicher Kommunikation in der Antike, um biblische Beispiele der Massenkommunikation, insbesondere die Rede des Anwalts Tertullus, richtig bewerten zu können. Lukas biete nicht die gesamte Rede des Tertullus, sondern nur die captatio benevolentiae und einige ausgewählte Argumente. Aber selbst in dieser Kürze gebe er den Lesern ein Bild von dem Klang einer öffentlichen leidenschaftlichen Rede. Bemerkenswert seien insbesondere die anakoluthische Syntax − der Ehrgeiz asianischer (= blumenreichen Sprachstil der hellenistischen Zeit benutzender) Redner - und die bis auf eine Ausnahme rhythmischen Satzendungen.

 

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V. 3

 

Beobachtungen: Der Titel "Erlauchter“ war einem Prokurator ritterlichen Rangs durchaus angemessen. Wenn auch Felix nicht von ritterlichem Rang war, so wird es auch im seinem Falle nahe gelegen haben, diesen Titel zu benutzen.

 

Weiterführende Literatur: G. Rinaldi 1991, 423-466 geht den Fragen nach dem vollständigen Namen und der Herkunft des Prokurators Felix nach und untersucht anschließend, welches die wesentlichen Ereignisse seiner Amtszeit waren. Es sei auffällig, dass der Verfasser der Apg zwar gewöhnlich präzise neben dem cognomen auch das nomen gentilicium der Prokuratoren mitteile (vgl. Lk 3,1: Pontius Pilatus; Apg 24,27: Porcius Festus), im Falle des Prokurators Felix jedoch nur das cognomen, Felix, nenne. Die Suche nach dem vollständigen Namen sei insofern von Belang, als dem Sklaven bei dessen Freilassung der Name (praenomen und nomen gentilicium) des freilassenden Patrons gegeben wurde. G. Rinaldi folgt C. Hemer 1987, 45-49 und hält für wahrscheinlich, dass der vollständige Name M. (= Marcus) Antonius Felix lautete, nicht aber Tiberius Claudius Felix. G. Rinaldi vermutet, dass die Familie von Felix und seinem Bruder Pallas aus Syrien oder Umgebung, also aus der Nähe von Judäa, stammte. Von bescheidener Herkunft, aber schnell erworbenem Wohlstand sei sie ein Beispiel für das beginnende Eindringen orientalischer Familien in die kaiserliche Verwaltung. In der zweiten Jahreshälfte 52 n. Chr. sei Felix wohl zum Prokurator von Judäa ernannt worden, wobei er die Amtsgeschäfte 53 n. Chr. in Angriff genommen habe.

 

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V. 4

 

Beobachtungen: Das Verb "enkoptô“ bedeutet "hindern“, "stören“ oder "aufhalten“. In V. 4 ist also gemeint, dass Tertullus den Prokurator nicht zu sehr stören oder aufhalten wollte. Zugrunde liegt der Gedanke, dass Zeit etwas Wertvolles ist und der Prokurator in ihr auch etwas anderes hätte machen können als der von Tertullus vorgebrachten Anklage der Juden zuzuhören. Dem Prokurator war also daran gelegen, möglichst wenig Zeit mit dem vorgebrachten Fall zu vergeuden. Um ihm das Zuhören schmackhaft zu machen, ließ Tertullus das Anliegen der Juden als kurz erscheinen.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 5

 

Beobachtungen: In den V. 5-6 nennt Tertullus nun die wesentlichen Anklagepunkte. Da sich die römische Gerichtsbarkeit nicht mit innerjüdischen Streitfragen befasste (vgl. Apg 18,15; 23,29), musste Tertullus versuchen, die Gefahr deutlich zu machen, die von Paulus für die Ordnung des Römischen Staates ausging. Bei der Deutung von V. 5-6 ist also neben dem innerjüdischen Blickwinkel in besonderem Maße auch der Blickwinkel des Adressaten der Anklagerede, des römischen Prokurators Felix, zu bedenken. Dessen vordringliche Aufgabe war es, die öffentliche Ordnung in seiner Provinz zu wahren.

 

Der griechische Begriff "loimos“ kann sowohl als Substantiv als auch als Adjektiv verstanden werden. In ersterem Fall wäre die Bedeutung "Pest“, in letzterem Fall "pesterfüllt“, verderblich/schädlich“. Die Bezeichnung des Paulus als "Pest“ bzw. "pesterfüllt“ beinhaltet zwei Aspekte: Erstens handelt es sich bei der Pest um eine Krankheit, zweitens ist diese hochgradig ansteckend. So bestand die Gefahr, dass diese Krankheit die ganze Welt ansteckte, also Paulus die ganze Welt schädigte.

 

Tertullus versuchte durch Dramatisierung der Gefahr dem Prokurator zu verdeutlichen, in welchem Maße Paulus eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellte: Demnach schürte Paulus unter ausnahmslos allen Juden, und zwar nicht nur in Israel oder in der Provinz Judäa, sondern auf der ganzen Welt (oder: auf dem Erdkreis; kata tên oikoumenên“), Unruhe. Auch wenn die Unruhe gemäß den Worten des Tertullus auf die Juden beschränkt war, musste der Prokurator Felix doch befürchten, dass daraus eine allgemeine öffentliche Unruhe werden würde, die auch die Nichtjuden erfassen konnte. Somit war die öffentliche Ordnung gefährdet.

 

Das Substantiv "prôtostatês“ bedeutet "Anführer“. In V. 5 ist es nicht in neutraler Bedeutung gebraucht, sondern in negativer. Da der "Anführer“ Paulus in Verbindung mit Unruhe und Aufruhr zu sehen ist, ist in V. 5 die Übersetzung "Rädelsführer“ passend.

 

Auch das Substantiv "hairesis“ hat in V. 5 eine negative Bedeutung. Es handelt sich aus Sicht der Juden nicht nur um eine Glaubensgruppe, sondern um eine Glaubensgruppe auf Abwegen, um eine "Sekte“. Diese wird wie ihr Rädelsführer Paulus mit Unruhe und Aufruhr verbunden.

Der negativen Färbung des Begriffs "Sekte“ kam im Verfahren vor dem Prokurator besondere Bedeutung zu, denn dort kam es darauf an, die Christen möglichst in weite Entfernung von den Juden zu rücken. Hätte Tertullus die Christen nur als innerjüdische Glaubensrichtung dargestellt, dann wären die Christen vom Prokurator sogleich zum Judentum gezählt worden, das als "religio licita“, also als eine von den römischen Behörden anerkannte Religion galt, die in einem gewissen Rahmen frei ausgeübt werden durfte. Nicht jüdische Glaubensrichtungen an sich betrachteten die römischen Behörden als Problem, sondern jüdische Gruppierungen, die gegen die Rahmenbedingungen verstießen und/oder gegen die römische Besatzungsmacht Widerstand leisteten. Als eine solche Gruppierung, die nicht dem rechtmäßigen Judentum zuzuordnen war, versuchte Tertullus die Christen darzustellen.

 

Die Bezeichnung der Christen als "Nazoräer“ ("Nazôraioi“) ist unklar. Sie weist auf Jesus Christus hin, der ebenfalls als "(der) Nazoräer“ bezeichnet wurde (vgl. Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 26,9 u. a.) und sich auch selbst so nannte (vgl. Apg 22,8). Jesus stammte aus der Stadt Nazareth, womit "der Nazoräer“ im Sinne von "aus Nazareth“ zu deuten sein könnte. Dann wäre die Bezeichnung gleichbedeutend mit "Nazarênos“. Diese gleiche Bedeutung ist allerdings keineswegs sicher, zumal der Artikel "ho“ überflüssig wäre. Möglich sind auch Ableitungen aus dem Hebräischen oder Aramäischen, nämlich von "nazir“ ("Nasiräer“), von "nēṣär“ ("[messianischer] Spross“) oder von "nazir“ ("Fürst“). Die Christen stammten zwar nicht alle aus der Stadt Nazareth und waren auch nicht alle Nasiräer, messianische Sprosse oder Fürsten, doch glaubten sie, dass der, der aus der Stadt Nazareth stammte, der "messianische Spross“ bzw. der "Fürst“ ist. Insofern lag es nahe, dass die Anhänger Jesu Christi gleich bezeichnet wurden bzw. sich selbst so bezeichneten wie Jesus Christus selbst.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 6

 

Beobachtungen: Wörtlich übersetzt lautet V. 6 "…der sogar versucht hat, den Tempel zu entweihen; den wir auch ergriffen haben.“ Gemeint dürfte sein, dass die Ankläger den Paulus ergriffen haben, als er versuchte, den Tempel zu entweihen.

 

V. 6 bezieht sich auf 21,28-29, wonach der (unberechtigte) Vorwurf der Juden der Provinz Asien, Paulus habe "Griechen“ in den Tempel gebracht, zu dessen Ergreifung geführt hatte. Einem Nichtjuden war es nur erlaubt, den Vorhof der Heiden des Tempels zu betreten. Ein Vordringen darüber hinaus in den Innenbereich des Tempels war Nichtjuden bei Androhung der Todesstrafe verboten. Die Todesstrafe wurde deshalb von den jüdischen Behörden angedroht, weil ein Nichtjude im Innenbereich den Tempel entweihte. Da die Römer die Schutzmacht des Tempels waren, mussten sie gegen eine Entweihung des Tempels vorgehen. Bemerkenswerterweise schwächte Tertullus die ursprüngliche, in 21,28-29 vorgebrachte Klage ab: Gemäß seiner Formulierung hatte Paulus nicht den Tempel entweiht, sondern "nur“ versucht, den Tempel zu entweihen. Wie sich dieser Versuch gestaltet hatte, ließ Tertullus offen.

 

Das "Ergreifen“ des Paulus ließ Tertullus als eine legale Aktion erscheinen, die einer Festnahme glich. Dass das "Ergreifen“ tumultartige Züge angenommen und zu einem Volksauflauf geführt hatte, der schließlich den Tribun und das römische Militär auf den Plan gerufen hatte (vgl. 21,30-32), verschwieg Tertullus wohlweislich. Bei einer korrekten Darstellung des tatsächlichen Sachverhalts hätte die Gefahr bestanden, dass der Prokurator die Ankläger und die Juden allgemein als Unruhestifter angesehen hätte.

Bei der Darstellung des Ergreifens des Paulus als legale Festnahme schwingt möglicherweise der Gedanke mit, dass es eigentlich auch den Juden - konkret den "Hohepriestern“, den Ältesten oder dem Hohen Rat - zugekommen wäre, über eine Bestrafung des Paulus zu entscheiden.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 7

 

Beobachtungen: Eine vergleichsweise schwach bezeugte Textvariante bietet den Einschub "7 Aber der Tribun Lysias kam hinzu und entriss ihn mit aller Gewalt unseren Händen; 8 und er befahl seinen Anklägern zu dir zu kommen. …“. In der besser bezeugten Textversion fehlen die V. 7-8a.

 

Weiterführende Literatur: Laut É. Delebecque 1981, 426-434 lasse sowohl die kurze Textfassung als auch die lange der Textvariante lukanischen Sprachgebrauch und Stil erkennen. Erst habe Lukas den kürzeren Text verfasst, in der der Tribun Lysias noch nicht erwähnt worden sei. Lukas sei aufgefallen, dass Tertullus in der bisherigen Textfassung den Prokurator Felix über den Grund für das Erscheinen der Ankläger im Unklaren gelassen hatte, obwohl er davon ausgehen musste, dass der Prokurator über den Grund noch nicht informiert war. Deshalb habe Lukas die Erwähnung des Lysias eingefügt. Dabei werde jedoch im Vergleich mit dem Begleitschreiben des Lysias an den Prokurator der verfälschende Charakter der Darstellung des Tertullus deutlich. Tertullus verschweige nämlich, dass Lysias den Paulus vor einem geplanten Mordversuch seitens der Juden retten wollte.

 

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V. 8

 

Beobachtungen: Die wörtliche Übersetzung von V. 8 lautet: "Von ihm kannst du selbst, wenn du ihn verhört hast, alles erfahren, dessentwegen wir ihn anklagen.“

 

"Von ihm“ ist im Sinne von "von Paulus“ zu verstehen. Einen anderen Bezug ergibt jedoch der Einschub V. 7-8a der Variante: Aufgrund der Erwähnung des Tribuns (Claudius) Lysias in V. 7 ist "von ihm“ gemäß der Variante im Sinne von "von Lysias“ zu verstehen. Der Tribun (Claudius) Lysias wäre demnach derjenige, bei dem sich der Prokurator von der Richtigkeit der Anschuldigungen gegen Paulus überzeugen konnte.

 

Es erstaunt, dass Tertullus plötzlich Paulus als den entscheidenden die Anklage bestärkenden Informanten ins Spiel brachte, denn von diesem war ja eigentlich eher seine Verteidigung und die Widerlegung der Anklagepunkte zu erwarten. Möglicherweise setzte Tertullus darauf, dass sich Paulus unter dem Druck eines Kreuzverhörs selbst belasten würde. Außerdem mochte der Verweis auf Paulus ein rhetorischer Schachzug sein, der die Ankläger und ihre Anklagepunkte als dermaßen sicher erscheinen ließ, dass sie die Aussagen des Angeklagten nicht zu fürchten brauchten. Die Anwendung von Folter wird Tertullus wohl nicht angenommen haben, denn er wird erfahren haben, dass Paulus ein römischer Bürger war und somit nicht gefoltert werden durfte. Immerhin war diese Tatsache ja der Grund für die Verlagerung des Falls nach Cäsarea vor den Prokurator gewesen.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 9

 

Beobachtungen: Seine Rede hat Tertullus im Wir-Stil gehalten, was ihn den Juden zuordnet. Allerdings bedeutet der Wir-Stil nicht zwangsläufig, dass Tertullus tatsächlich ein Jude war, denn er musste sich ja als Anwalt die Sache der Juden zu eigen machen, gleich ob er Jude war oder nicht. Gegen die Annahme, dass Tertullus ein Jude war, spricht die Tatsache, dass in V. 9 die "Juden“ als eine von Tertullus unterschiedene Gruppe genannt werden. Die V. 1-9 lassen nicht erkennen, dass neben dem Hohenpriester Hananias und einigen Ältesten noch weitere Juden bei dem Prozess vor dem Prokonsul anwesend waren. Die "Juden“ können zwar in Cäsarea und Umgebung wohnhafte Juden gewesen sein, die dem Prozess beiwohnten, doch dürften diese höchstens eine Zuschauerfunktion gehabt haben, womit ihre Bekräftigung der Aussagen des Tertullus wohl kaum Gewicht gehabt hätte. Wahrscheinlicher ist also, dass in V. 9 der Hohepriester Hananias und die mitgereisten Ältesten unter dem Oberbegriff "Juden“ zusammengefasst werden. Tertullus wäre demnach ein Nichtjude gewesen.

 

Das Verb "synepitithemai“ bedeutet "mit angreifen“, womit ausgesagt ist, dass auch die Juden mit angriffen. Gemeint dürfte sein, dass sie den Inhalt der Anklagerede des Anwalts Tertullus bestätigten. Derjenige, dem der Angriff bzw. die Anklage galt, war Paulus.

 

Weiterführende Literatur:

 

 

Literaturübersicht

 

Brown, H. Stephen; Paul’s Hearing at Caesarea: A Preliminary Comparison with Legal Literature of the Roman Period, SBL.SPS 35 (1996), 319-332

Delebecque, Édouard; Saint Paul avec ou sans le tribun Lysias en 58 à Césarée (Actes, XXIV, 6-8). Texte court ou texte long?, RThom 81/3 (1981), 426-434

Hemer, Colin, The Name of Felix Again, JSNT 31 (1987), 45-49

Rapske, Brian; The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in Its First Century Setting 3), Grand Rapids, Michigan - Carlisle 1994

Rinaldi, Giancarlo; Procurator Felix. Note prosopografiche in margine ad una rilettura di At 24, RivBib 39/4 (1991), 423-466

Siegert, Folker; Mass Communication and Prose Rhythm in Luke-Acts, in: S. Porter et al. [eds.], Rhetoric and the New Testament (JSNTS 90), Sheffield 1993, 42-58

 

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