Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Epheserbrief

Der Brief des Paulus an die Epheser

Eph 6,18-20

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Eph 6,18-20



Übersetzung


Eph 6,18-20 :18 Unter lauter Gebet und Bitten betet zu jeder Zeit im Geist und wacht dafür in aller Ausdauer und Fürbitte für alle Heiligen 19 und für mich, damit mir [das] Wort gegeben werde, wenn ich meinen Mund öffne, um freimütig das Geheimnis des Evangeliums kundzutun, 20 für das ich als Gesandter in Ketten liege, damit ich in ihm frei und offen rede, wie ich reden muss.



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V. 18


Beobachtungen: Die Verse 18-20 bilden den Abschluss des Abschnittes (6,10-20), der das christliche Leben als geistlichen Kampf darstellt. Inhaltlich unterscheidet er sich von den beiden vorhergehenden Unterabschnitten: Die V. 10-13 sind auf die Situation des Kampfes und die V. 14-17 auf die Waffenausrüstung eingegangen. Die V. 18-20 befassen sich dagegen mit Gebet und Fürbitte, darüber hinaus mit der Verkündigung des Evangeliums.


Trotz der klaren inhaltlichen Unterscheidbarkeit der V. 18-20 von den V. 10-17, lässt sich jedoch mit Blick auf die Grammatik eine enge Verbindung zwischen diesen beiden Texten feststellen: Der V. 18 bietet nur zwei Partizipien, nämlich "proseuchomenos" ("betend") und "agrypnountes" ("wachend"), aber kein finites Verb. Die Partizipien sind untergeordnet und beziehen sich auf ein vorhergehendes, übergeordnetes finites Verb. Das vorausgehende übergeordnete finite Verb ist "dexasthe" ("nehmt!") und findet sich in V. 17. Für die Übersetzung ergeben sich damit zwei Möglichkeiten: Die wörtliche Übersetzung von V. 17-18 ist "Und nehmt auch den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes, indem ihr unter lauter Gebet und Bitten zu jeder Zeit im Geist betet und dafür wacht in aller Ausdauer und Fürbitte für alle Heiligen...". Ebenfalls können die beiden Partizipien dem finiten Verb "stête" ("steht fest!"; V. 14) untergeordnet sein, womit zu lesen wäre: "Steht fest ..., indem ihr unter lauter Gebet und Bitten zu jeder Zeit im Geist betet und dafür wacht in aller Ausdauer und Fürbitte für alle Heiligen...". Wie auch immer: Die V. 18-20 machen deutlich, wie die Standhaftigkeit im Kampf und das Anziehen und Verwenden der Waffenrüstung zu verstehen ist: Es ist keine Standhaftigkeit im weltlichen Kampf gemeint und keine Verwendung einer materiellen Waffenrüstung (oder konkret eines materiellen Helm und Schwertes), sondern die Standhaftigkeit und Waffenrüstung sind geistlicher Art und gründen in Gebet und Fürbitte. Gebet und Fürbitte sind aber selbst keine (geistlichen) Waffen. Die zweite mögliche Übersetzung ist die Übersetzung der Partizipien als Imperative. Eine solche Übersetzung ist möglich, weil das übergeordnete Verb - "dexasthe" ("nehmt!") oder "stête" ("steht fest!") ein Imperativ ist. In V. 16 findet sich mit dem Partizip "analabontes", das dort mit "ergreift!" übersetzt werden kann, ein Beispiel für die Übersetzung eines Partizips als Imperativ. Allerdings ist anzumerken, dass es sich bei dem Partizip "analabontes" um ein Partizip in der Zeitform Aorist handelt und somit Übereinstimmung mit der Zeitform des vorausgehenden Imperativs "stête" ("steht fest!") vorliegt. "Proseuchomenos" ("betend") und "agrypnountes" ("wachend") sind dagegen präsentische Partizipien, womit sie bezüglich der Zeitform weder mit dem Imperativ "dexasthe" ("nehmt!") noch mit dem Imperativ "stête" ("steht fest!") - beides sind Aoriste - übereinstimmen. Diese Diskrepanz ist jedoch nicht überzubewerten, denn sie kann stilistisch zu erklären sein oder mit dem Willen des Verfassers des Eph, nicht nur zu Gebet, Fürbitte und Wachsamkeit zu ermahnen, sondern zugleich Gebet, Fürbitte und Wachsamkeit als dauerhafte Grundlage der Standhaftigkeit und geistlichen Waffenrüstung erscheinen zu lassen. Welche der beiden Übersetzungsmöglichkeiten ist am besten zu wählen? Wenn die V. 10-20 oder zumindest die V. 14-20 im Zusammenhang gelesen werden, ist erstere Übersetzung vorzuziehen, weil sie den Zusammenhang deutlicher zutage treten lässt. Werden die V. 18-20 dagegen als eigenständige Sinneinheit gelesen und/oder behandelt, beispielsweise als Lesungstext im Gottesdienst oder beim Gespräch im Bibelkreis, dann ist die zweite Übersetzungsmöglichkeit zu wählen, weil sie es erlaubt, nur diese drei Verse ohne die vorhergehenden Verse zu lesen. Die vorhergehenden Verse brauchen dann nur bedacht zu werden.


Das Verb "agrypneô" kann sowohl im Sinne von "wach/schlaflos sein" als auch "wachsam sein" gedeutet werden. Erstere Deutung lässt an Gebet und Fürbitte auch in der Nacht denken, letztere Deutung an Wachsamkeit im Hinblick auf das christliche Leben, auf Anfechtungen und auf die Endzeit.


Es ist bemerkenswert, welche Mühe sich der Verfasser des Eph gibt, Gebet, Fürbitte und Wachsamkeit nicht als etwas - im Rahmen der christlichen Gemeinschaft - in irgendeiner Form Begrenztes oder halbherzig Durchgeführtes erscheinen zu lassen, sondern als etwas, was das christliche Dasein voll und ganz prägt. Diesen umfassenden Charakter streicht er mit einer Vielzahl Formulierungen heraus: "Unter lauter Gebet und Bitten" macht deutlich, dass nicht nur bestimmtes Gebet und Bitten im Blick ist, sondern jegliches. "Betet zu jeder Zeit" unterstreicht, dass Fürbitte und Gebet zu jeder Zeit erfolgen können und auch sollen. "In aller Ausdauer und Fürbitte" gibt zu erkennen, dass es nicht darum geht, zeitlich begrenzt bzw. kurzzeitig zu beten und zu bitten und sich dann wieder allen möglichen anderen Beschäftigungen hinzugeben, sondern dass Gebet, Fürbitte und Wachsamkeit dauerhaft und mit Beharrlichkeit - also ohne nachzulassen - erfolgen sollen. Es handelt sich also um eine Lebenshaltung. Im Hinblick auf die Wachsamkeit bedeutet das, dass weniger nächtliches Wachsein als vielmehr Wachsamkeit im gesamten Leben gemeint ist, wobei nächtliches Wachsein eingeschlossen sein kann. "Für alle Heiligen" ist eine Formulierung, die zu erkennen gibt, dass die gesamte Kirche als untrennbare Gemeinschaft angesehen wird. Es geht also nicht nur um Gebet für sich selbst, für die eigenen christlichen Verwandten oder Freunde, auch nicht um Gebet für Amtsträger oder Wundertäter und auch nicht um Gebet nur für Paulus bzw. den Verfasser des Eph, sondern es geht um das Gebet für alle Christen.


Der altgriechische Begriff „proseuchê“ ("Gebet") bezeichnet hier möglicherweise allgemein das Gebet, „deêsis“ dagegen nur eine konkrete Art des Gebetes, nämlich die Fürbitte. Die Formulierung "dia pasês proseuchês kai deêseôs" ("unter lauter Gebet und Bitten") kann aber auch als Hendiadyoin zu verstehen sein: eine Sache wird durch zwei Begriffe – „proseuchê“ und „deêsis“ – wiedergegeben, die beide dasselbe meinen, nämlich das Gebet bzw. die Bitte im Gebet.


Mit dem "Geist" kann sowohl der menschliche Geist, die Gesinnung, als auch der heilige Geist gemeint sein. Mit Blick auf die ähnlichen Formulierungen in Eph 2,22 und 3,5, wo der heilige Geist gemeint ist, dürfte auch in 6,19 der heilige Geist gemeint sein. Dieser ist als eine Wirkkraft gedacht.

Die Formulierung "en pneumati" dürfte hier mit "im Geist" zu übersetzen sein. "Im Geist" bezeichnet vermutlich den Wirkraum des (heiligen) Geistes. Inwiefern mag der heilige Geist im Hinblick auf das Gebet wirken? Zum einen ist daran zu denken, dass er zum Gebet motiviert. Das kann das Gebet beispielsweise im Gottesdienst oder abends im Bett sein, dürfte sich aber nicht darauf beschränken, sondern auch das immerwährende Gebet einbeziehen. Der heilige Geist ist die Kraft, die die rechte Gebetshaltung des Christen bewirkt. Zum anderen mag der heilige Geist aber auch eingeben, für wen gebetet wird und was der Inhalt des Gebetes ist. Paulus bzw. der Verfasser des Eph gibt vor, für wen gebetet werden soll. Der heilige Geist gibt dies also den Adressaten nicht direkt vor, sondern muss nur noch die Durchführung bewirken. Es mag sein, dass daran gedacht ist, dass der heilige Geist dem Paulus bzw. Verfasser des Eph eingegeben hat, für wen zu beten ist. Gleiches gilt für den Inhalt des Gebetes.


Auffällig ist in V. 18-20 (besonders in V. 18) die Häufung von Worten, die "p" beginnen. Diese Häufung dürfte stilistisch zu erklären sein.


Die Fürbitte (oder: Gebet und Bitten) soll für alle Heiligen erfolgen. Bei den „Heiligen“ handelt sich gemäß frühchristlichem Verständnis nicht um besondere Wundertäter, sondern um alle Christen, die durch ihre Taufe geheiligt worden sind und nun ein neues, heiliges und reines Leben führen (sollten). In den "Heiligen" ist auch Paulus bzw. der Verfasser des Eph eingeschlossen.


Weiterführende Literatur: Gemäß J. K. McVay 2005, 91-100 zeige die vielfache Aufnahme des Bildes der geistlichen Waffenrüstung im Laufe der Geschichte, um was für einen rhetorischen Erfolg es sich handelt. Das Bild der geistlichen Waffenrüstung sei von den einen individualistisch gedeutet worden, von den anderen korporativ. Die individualistische Deutung sehe im Kampf mit der geistlichen Waffenrüstung einen inneren Kampf des einzelnen Menschen gegen Versuchungen. Die korporative Deutung gehe von der Annahme aus, dass es sich bei dem Abschnitt Eph 6,10-20 sowohl um eine Zusammenfassung als auch um den Abschluss des Eph handele. Es sei die Kirche, die den geistlichen Kampf ficht. J. K. MacVay hält die korporative Deutung für wahrscheinlicher, es sei an die „ecclesia militans“ („kämpfende Kirche“) gedacht.


J. A. Adewuya 2012, 251-258 gibt zunächst einen kurzen Überblick über die verschiedenen hermeneutischen Ansätze, wie der in Eph 6,10-18 thematisierte geistliche Kampf zu verstehen sein könnte. Dann nähert er sich von seinem afrikanischen und pfingstlichen Hintergrund ausgehend dem Abschnitt an. Er macht deutlich, dass es zwei Gefahren gebe: Die eine Gefahr sei die Leugnung der Existenz von bösen Geistern. Die andere Gefahr sei, bösen Geistern ein zu großes Gewicht zu geben, wie es gerade in afrikanischen Gesellschaften oft geschehe. J. A. Adewuya merkt an, dass es zwischen der Pfingstbewegung der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel – speziell Afrika - Unterschiede gebe, und informiert über signifikante Unterschiede zwischen der afrikanischen und nordamerikanischen Spiritualität.


Zur Frage, wie in einer multikulturellen Gesellschaft Eph 6,10-20 gepredigt werden kann, siehe H. M. Holt-Woehl 2009, 292-299. Predigt in einem multikulturellen städtischen Kontext sei nicht einfach. Man müsse auf alle Geschichten hören und für Gemeinsamkeiten und Unterschiede und außerdem auch für das kreative Chaos beim Zusammenkommen und Auseinandergehen offen sein.


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V. 19


Beobachtungen: Es wird aber eigens erwähnt, dass Gebet und Fürbitte auch für Paulus bzw. den Verfasser des Eph erfolgen sollen. Das wird mit der besonderen Funktion des Paulus bzw. Verfassers des Eph bei der Verkündigung des Evangeliums begründet. In 3,14-19 war vom "Beugen der Knie" (zum Gebet und zur Fürbitte) des Paulus bzw. Verfassers des Eph für die Adressaten die Rede, nun wird die Richtung von Gebet und Fürbitte umgekehrt. Es wird deutlich, dass Gebet und Fürbitte keine Einbahnstraße sind. So wird die Zusammengehörigkeit im christlichen Glauben herausgestellt.


In V. 19-20 findet sich zweimal die Konjunktion "hina" ("dass/damit"). Im ersten Fall (V. 19) leitet sie die Aussage zum Inhalt des Gebetes und der Fürbitte für Paulus bzw. den Verfasser des Eph ein, im zweiten Fall leitet sie die Aussage zu einem zweiten Inhalt oder zum Zweck des Gebetes und der Fürbitte für Paulus bzw. den Verfasser des Eph ein. Der Inhalt ist "damit mir [das] Wort gegeben werde, wenn ich meinen Mund öffne, um freimütig das Geheimnis des Evangeliums kundzutun", der zweite Inhalt oder Zweck "damit ich in ihm frei und offen rede, wie ich reden muss".


"Gegeben wird" ist vermutlich ein passivum divinum, also ein Passiv, bei dem zwar offen bleibt, wer handelt, aber vermutlich Gott (oder: Jesus Christus) als Handelnder gedacht ist.


Der altgriechische Begriff "logos" ("Wort/Rede/Äußerung") meint hier wohl kein einzelnes, bestimmtes Wort, sondern eine Äußerung oder Rede. Diese ist auf das Evangelium (oder: Geheimnis des Evangeliums) zu beziehen, das es seitens des Paulus bzw. des Verfassers des Eph kundzutun gilt.


Der Mund ist hier als Sprachorgan gedacht und das Öffnen des Mundes eröffnet die Rede, hier zum Kundtun des Evangeliums.


Der altgriechische Begriff "parrêsia" hat viele Bedeutungsfacetten und kann sowohl "Freimütigkeit/Offenheit" als auch "Kühnheit", "Zuversicht" oder "Freude" bedeuten. Alle diese Bedeutungsfacetten können in 6,19 vorliegen: Das Evangelium ist ein "Geheimnis". Es ist das Geheimnis Gottes bzw. Christi (vgl. 1,9; 3,4; 3,9), das keinem Menschen bekannt wäre, wenn er es nicht Missionaren wie Paulus bzw. dem Verfasser des Eph offenbart hätte (3,3-4.9), damit diese es verkündigen und so alle Menschen erleuchtet werden, was der Heilsplan des Geheimnisses ist (3,9). Dies setzt voraus, dass Missionare wie Paulus bzw. der Verfasser des Eph nichts von dem Geheimnis, das ihnen offenbart worden ist, zurückhalten. Es ist also ihre Aufgabe, das Evangelium vollständig und offen zu verkündigen. Es darf also nicht zu einer Halbwahrheit werden, die schlimmstenfalls die Wahrheit verzerrt. Es darf auch nicht zu einer Geheimwissenschaft einiger weniger Erwählter werden, die die anderen Christen nur ansatzweise in das Evangelium einweisen. Der nächste Aspekt ist die "Kühnheit". Aus V. 20 geht hervor, dass Paulus bzw. der Verfasser des Eph in Ketten liegt, also gefangen ist. Aus diesem Sachverhalt lässt sich die Gefahr erschließen, der die Christen - speziell die Missionare - in den ersten Jahrhunderten in der mehrheitlich heidnischen antiken Welt ausgesetzt waren. Da lag es nahe, bei Gefahr das Evangelium nicht zu verkündigen, sondern lieber zu schweigen und die eigene Haut zu retten. Genau dies soll aber gemäß 6,19-20 nicht geschehen. Damit Paulus bzw. der Verfasser des Eph aber überhaupt im Gefängnis verkündigen kann, muss ihm dies seitens seiner Verfolger gewährt werden. Wenn ihm keine Gelegenheit gegeben wird, einen Menschen zu empfangen und/oder einen Brief zu schreiben und zu übergeben und er schlimmstenfalls sogar noch zum Tode verurteilt und hingerichtet wird, dann nützt alle Verkündigung nichts, weil sie niemanden erreicht oder überhaupt nicht mehr erfolgen kann. Ein weiterer Aspekt ist die "Zuversicht". Diese "Zuversicht" kann mit der Hoffnung auf das eigene Heil erklärt werden: So haben die Christen aufgrund der Versöhnung mit Gott von diesem keine Bestrafung zu befürchten. Möglicherweise klingt sogar noch mehr mit: Sie können zuversichtlich sein, bei Gott bzw. Christus ewiges Heil zu erlangen (vgl. 3,12). Darüber hinaus dürfte auch die Zuversicht gemeint sein, durch die Mission auch die anderen Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen, womit diese in das Heil eingeschlossen werden. Und der letzte Aspekt, der hier sicherlich nicht im Mittelpunkt steht, aber vielleicht am Rande anklingt, ist die Freude, die mit der Hoffnung auf das Heil verbunden ist.


Einige, durchaus auch wichtige Textzeugen lesen "das Geheimnis" statt "Geheimnis des Evangeliums". Geben sie den ursprünglichen Text wieder, handelt es sich also bei "des Evangeliums" um einen späteren Zusatz? Oder ist die Formulierung "Geheimnis des Evangeliums" ursprünglich und das kürzere "das Geheimnis" eine spätere Kürzung? "Des Evangeliums" kann durchaus eine spätere Ergänzung sein, die der Verdeutlichung dient, um was für ein Geheimnis es sich handelt. Aber lag diese Ergänzung nahe? Eigentlich wäre eine Ergänzung zu erwarten, die eine Formulierung aus einer anderen Stelle des Epheserbriefes oder aus einer Stelle des dem Epheserbrief verwandten Kolosserbriefes übernimmt. In Eph 3,4 und Kol 4,3 findet sich die Formulierung "das Geheimnis (des) Christi", in Kol 2,2 die Formulierung "das Geheimnis (des) Gottes". Insofern wäre die Übernahme einer dieser beiden Formulierungen zu erwarten gewesen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Ergänzung von "das Geheimnis" mittels "des Evangeliums" theologisch begründet ist, wäre doch zu erwarten, dass es weitere Varianten gibt und unter diesen "das Geheimnis (des) Christi" und/oder "das Geheimnis (des) Gottes" auftaucht. Dies spricht dafür, dass die längere Lesart die ursprüngliche ist, auch wenn grundsätzlich Ergänzungen eines für heilig gehaltenen Textes wahrscheinlicher als Kürzungen sind. Über den Grund für die Kürzung kann man nur spekulieren. Es kann sich um ein Versehen handeln oder das präzisierende "des Evangeliums" wurde als nicht nötig angesehen.


Weiterführende Literatur: Zur Fürbitte im Kol und im Eph schreiben F. Schnider, W. Stenger 1987, 79-80: Mit der Fürbitte, die beide Briefe enthalten, solle erreicht werden, dass der gefangene Apostel dennoch offen das "Geheimnis Christi" (Kol 4,3) bzw. "das Geheimnis des Evangeliums" (Eph 6,19) "bekanntmachen" kann. Doch unterschieden sich Kol und Eph auch. Sei im Kol das Ziel der erbetenen Fürbitte der Gemeinde für den Apostel, dass, obwohl er selbst gefangen ist, sich wenigstens eine Tür für das Wort auftue, dass der Apostel also Gelegenheit für seine Evangeliumsverkündigung erhalte, so solle im Eph durch die Fürbitte der Gemeinde dem Apostel "ein Wort beim Öffnen seines Mundes" gegeben werden, er solle also Offenbarungsempfänger bleiben, um so das Geheimnis des Evangeliums bekanntmachen zu können. Dass er "in Ketten" ist, hindere diese Bekanntgabe nicht. Vielmehr sei er gerade "in Ketten" "Gesandter" des Evangeliums, in seiner gefesselten Existenz offenbare er dessen Geheimnis.


M. N. A. Bockmuehl 1990 geht in seinem Buch über "Offenbarung" und "Geheimnis" bei Paulus auch kurz auf relevante Stellen im Epheserbrief ein (S. 205 zu 6,19-20), der paulinische Blickwinkel und Gewichtungen fortführe. Der epexegetische Genitiv "Geheimnis des Evangeliums" (= das Evangelium ist das Geheimnis), zu dem sich bis dahin keine Parallele finde, drücke eine bereits 1 Kor 2,1 und Kol 4,3 geläufige Vorstellung aus. Der Apostel sei "Gesandter in Ketten", damit er das Evangelium kühn rede, wie er reden müsse. Die Ketten machten seine Verpflichtung deutlich.


P. Iovino 1986, 327-367 sieht den Lobpreis (Eulogie) 1,3-14 als den Kern des gesamten Eph an. Er enthalte die wesentliche Botschaft, in verdichteter Form die leitenden Gedankengänge und in Anlage die gesamte Struktur. All dies werde im Folgenden des Eph weiter entfaltet. Die „Kenntnis des Geheimnisses“ (vgl. 1,9) finde im abschließenden Gebet für die offene und freimütige Verkündigung des Geheimnisses des Evangeliums (vgl. 6,19-20) seitens des Paulus ihre Erfüllung.


Laut G. R. Smillie 1997, 199-222 scheine die Enthüllung des Geheimnisses des Evangeliums in den paulinischen Schriften im Eph ihren Höhepunkt zu finden. 6,19-20 erscheine schließlich als Ermutigung all jener, die sich bei ihrem Dienst Umständen ausgesetzt sehen, die wie „Ketten“ erscheinen. Paulus sei im wahrsten Sinne des Wortes in Ketten. Das Geheimnis des Evangeliums sei der Grund für seine Gefangenschaft. Für Paulus sei die Gefangenschaft aber kein Verdruss, aus der er befreit zu werden wünscht, sondern sie sei ihm Ansporn und Chance. Sie ermögliche ihm etwas, was er sich sonst kaum erhoffen könne: Er habe bald die Gelegenheit, sich mit seiner besonderen Botschaft an den Kaiser, den Herrscher der gesamten zivilisierten Welt, zu wenden. Er sei wahrhaft ein „Gesandter in Ketten“.


A. T. Lincoln 1995, 99-114 geht der Frage nach, was für einen Erkenntnisgewinn es bringt, wenn man Eph 6,10-20 unter rhetorischen Gesichtspunkten analysiert und als peroratio deutet. Könnte man den Abschnitt nicht einfach als einen bemerkenswerten Abschluss der Ermahnungen ansehen? Laut A. T. Lincoln bleibe dann offen, warum der Verfasser des Eph so unvermittelt auf die Waffenrüstung zu sprechen kommt. Es komme die Frage auf, ob die Waffen dem Heil dienende Wohltaten sind, die seitens Gottes gewährt werden, oder ob es sich um ethische Eigenschaften handelt, die von den Gläubigen erwartet werden. Auch die ausgedehnte Gebetsbitte für den bereits verstorbenen Paulus lasse sich dann schwerlich erklären. Als peroratio gedeutet, werde deutlich, dass 6,10-20 nicht nur die Ermahnungen abschließt, sondern den ganzen Brief. Der Abschluss sei nicht nur passend, sondern diene auch höchst effizient dem Hauptanliegen des Verfassers des Eph, das Bewusstsein der Adressaten für ihre christliche Identität zu schärfen. Er fasse die Schlüsselelemente christlicher Identität zusammen und erinnere an diese. Die Ermahnung zum Gebet für Paulus’ Freimut bei der Verkündigung des Evangeliums (vgl. 6,19-20) sei als Aufruf des Verfassers des Eph zu verstehen, für seinen Freimut und seine Offenheit bei seiner Rede als Repräsentant des paulinischen Evangeliums zu beten.


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V. 20


Beobachtungen: Es ist unklar, worauf sich "hyper hou" ("für das") bezieht. Das Relativpronomen "hou" ist entweder ein Maskulinum oder ein Neutrum und muss sich entweder auf ein maskulines oder auf ein neutrales Bezugswort beziehen, oder auf eine ganze Formulierung. Als neutrales Bezugswort kommt "to mystêrion" ("das Geheimnis") infrage oder "tou euangeliou" ("des Evangeliums"). Und als Formulierungen, auf die sich "hyper hou" beziehen könnte, kommen "to mystêrion tou euangeliou" ("das Geheimnis des Evangeliums") und "gnôrisai to mystêrion tou euangeliou" ("das Geheimnis des Evangeliums kundzutun") infrage. Bei letzterem Bezug wäre die Übersetzung "wofür ich als Gesandter in Ketten liege" zu wählen. Welcher Bezug auch immer vorliegt, die Bedeutung des Textes ändert sich nur wenig. Und wenn - was wahrscheinlich ist - "to mystêrion tou euangeliou" so zu verstehen ist, dass das Evangelium selbst das Geheimnis ist, dann ist der Bezug für die Auslegung gänzlich irrelevant, weil "Geheimnis" und "Evangelium" bedeutungsgleich sind.


Das Verb "presbeuô", das hier "Gesandter sein" bedeutet, lässt erkennen, wie Paulus bzw. der Verfasser des Eph seine Rolle bei der Verkündigung versteht: Er ist nicht als reine Privatperson tätig, die Lust bekommen hat, auch andere Menschen am Evangelium teilhaben zu lassen. Er ist auch nicht selbst Herr darüber, ob er verkündigen möchte und was er verkündigt. Paulus bzw. der Verfasser des Eph hat vielmehr einen Auftrag übertragen bekommen. Er hat also jemanden über sich - wohl den "Herrn", Gott oder Jesus Christus -, von dem er beauftragt und entsandt wurde und dem er Rechenschaft schuldig ist. Und er hat den Auftrag zu erfüllen, und zwar vollständig, das ist seine Pflicht und nicht seiner eigenen Lust und Laune anheim gegeben. Kurz: Die Aufgabe des Gesandten Paulus bzw. der Verfassers des Eph ist es, im Evangelium frei und offen zu reden, wie er reden muss. Der Auftrag bzw. Dienst ist aber kein übler Sklavendienst, bei dem sich Paulus ausbeuten lässt bzw. lassen muss, sondern es ist ein Ehrendienst.

Dass ein Gesandter in Ketten liegt, ist eigentlich ein Affront gegenüber demjenigen, der den Gesandten entsendet hat. Und die Ketten stellen auch einen Widerspruch zum Ansehen und der Ehre und auch zur Immunität, die eigentlich einem Gesandten zukommen oder zukommen sollten, dar. Aber die Ketten verdeutlichen wohl die Mühen und Bedrängnisse, die die Mission prägen, und charakterisieren somit den Gesandten Paulus bzw. Verfasser des Eph und seinen Dienst. Ihm kommt keine Immunität zu. Und da liegt wohl das Besondere: Die Ketten, in denen der Gesandte Paulus bzw. Verfasser des Eph liegt, tun dessen Ansehen und Ehre keinen Abbruch, sondern sind Merkmal besonderen Ansehens und besonderer Ehre - mindestens vor Gott und/oder Christus.


Das zweite "hina" ("dass/damit") scheint sich auf den ersten Blick auf "für das ich als Gesandter in Ketten liege" zu beziehen. Bei einem solchen Bezug würde Paulus bzw. der Verfasser des Eph in Ketten liegen, damit er im Evangelium frei und offen redet, wie er reden muss. Dieser Bezug ergibt aber wenig Sinn, denn die Ketten der Gefangenschaft behindern ja freie und offene Rede. Die Ketten scheinen im Heilsplan Gottes vorgesehen zu sein und unterbinden die Verkündigung des Paulus bzw. des Verfassers des Eph nicht grundsätzlich. Dass sie aber die freie und offene Rede befördern, dürfte aber doch sehr unwahrscheinlich sein. Auch ist die durchaus mögliche Deutung, dass erst durch die Gefangenschaft die Berufung des Gefangenen beim Kaiser (vgl. Apg 25,10-12) und somit die Mission vor dem Kaiser und im kaiserlichen Umfeld ermöglicht wird, kühn und nicht nahe liegend. Insofern ist davon auszugehen, dass das zweite "hina" eine zweite Aussage zum Inhalt des Gebetes und der Fürbitte oder eine Aussage zum Zweck des Gebetes und der Fürbitte für Paulus bzw. den Verfasser des Eph macht: Gebet und Fürbitte sollen bewirken, dass Paulus bzw. der Verfasser des Eph trotz der Gefangenschaft "in ihm" frei und offen redet, wie er reden muss (vgl. Kol 4,3). Dabei ist unklar, ob an freie und offene Rede im Rahmen der Gefangenschaft, also im gerichtlichen Umfeld evtl. bis hin zum Kaiser gedacht ist, oder ob sie grundsätzlicher gedacht ist.


"En autô" ("in ihm") dürfte sich auf dasselbe Bezugswort oder auf dieselbe Formulierung beziehen wie "hyper hou" ("für das"). Eine Variante liest "auto" ("es") statt "en autô" ("in ihm"), womit die Übersetzung im Zusammenhang "... damit ich es frei und offen rede..." lautet. Die Variante ist eine Vereinfachung und orientiert sich möglicherweise an Kol 4,4. Es ist insofern eine Vereinfachung, weil nicht "im Geheimnis", "im Geheimnis des Evangeliums" oder "im Evangelium", also in einem Wirkraum, geredet wird, sondern das Geheimnis, das Geheimnis des Evangeliums oder das Evangelium selbst.


Weiterführende Literatur: Wäre der Eph ein authentischer Paulusbrief, dann würde laut R. A. Wild 1984, 288-294 die Aufforderung zum Gebet für ihn in seiner Gefangenschaft nicht verwundern. Da es sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach um einen pseudepigraphischen Brief etwa 30 Jahre nach seinem Tod handele, sei diese Gebetsaufforderung aber schon erstaunlich und werfe Fragen bezüglich der Deutung auf. R. A. Wild geht davon aus, dass Paulus als typologischer Gefangener erscheine. 6,19-20 präsentiere uns ein typologisches Muster wahrer christlicher Existenz in der Welt. Die kosmischen und dämonischen Mächte versuchten immer noch die Christen zu tyrannisieren und in dieser Hinsicht erschienen die Christen immer noch „in Ketten“. In Wirklichkeit aber seien die Ketten zerbrochen und die Mächte „in Christus“ besiegt. Das mythologisierte Bild des Paulus, ein Gefangener und zugleich kein Gefangener, diene den Christen als klares Ideal. Er sei ein Gefangener, aber nur Jesu Christi (vgl. 3,1). Damit genieße er in Wahrheit vollständige Freiheit und vollständigen Freimut. Und zugleich seien die Christen aufgrund der geistlichen Waffenrüstung unbesiegbar.



Literaturübersicht


Adewuya, J. Ayodeji; The Spiritual Powers of Ephesians 6:10-18 in the Light of African Pentecostal Spirituality, BBR 22/2 (2012), 251-258

Bockmuehl, Markus N. A.; Revelation and Mystery (WUNT II/36), Tübingen 1990

Holt-Woehl, H. M.; Putting on the Whole Armor of God: Preaching Ephesians 6:10-20 in a Multicultural Congregation, Word & World 29/3 (2009), 292-299

Iovino, Paolo; La "conoscenza del mistero". Una inclusione decisiva nella Lettera agli efesini (1,9 e 6,19), RivBib 34,1-2 (1986), 327-367

Lincoln, Andrew T.; "Stand, Therefore...": Ephesians 6:10-20 as Peroratio, BI 3/1 (1995), 99-114

McVay, John K.; "Our Struggle". Ecclesia Militans in Ephesians 6:10-20, AUSS 43/1 (2005), 91- 100

Schnider, Franz; Stenger, Werner; Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), 1987

Smillie, Gene R.; Ephesians 6:19-20: A Mystery for the Sake of Which the Apostle Is an Ambassador in Chains, TrinJ 18/2 (1997), 199-222

Wild, Robert A.; The Warrior and the Prisoner: Some Reflections on Ephesians 6:10-20, CBQ 46/2 (1984), 284-298

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