Tit 1,5-9
Übersetzung
Tit 1,5-9 : 5 Ich habe dich zu dem Zweck auf Kreta zurückgelassen, damit du das, was noch zu regeln war, ordnest und in den einzelnen Städten Älteste einsetzt, nach den Kriterien, die ich dir vorgegeben hatte: 6 Ein solcher soll tadellos sein, Mann einer einzigen Frau, gläubige Kinder haben, die nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt oder aufsässig sind. 7 Denn der Aufseher muss als Gottes Verwalter untadelig sein, nicht eingebildet, nicht jähzornig, kein Säufer und Schläger, nicht gewinnsüchtig, 8 sondern gastfreundlich, dem Guten zugetan, besonnen, gerecht, heilig; 9 stets bemüht um das zuverlässige Wort, das der Lehre entspricht, damit er in der Lage ist, in der gesunden Lehre zu stärken und die Widersprechenden zu widerlegen.
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Beobachtungen:
Dass die Insel Kreta als ein Ort der Regelung von Gemeindeangelegenheiten in den Blick kommt, erstaunt insofern, als Kreta in den gemeinhin für echt gehaltenen Paulusbriefen und in der Apostelgeschichte hinsichtlich der paulinischen Mission keine Rolle spielt. Es ist weder davon die Rede, dass Paulus dort gepredigt hat, noch dass er dort getauft und Gemeinden gegründet hat. Das Schiff, mit dem Paulus unterwegs war, ist nur an der Küste Kretas entlanggesegelt und es stellt sich die Frage, wo man dort am besten überwintern könnte. Bevor das Schiff jedoch den anvisierten Überwinterungshafen erreichte, geriet es in ein Unwetter und zerbrach nach einer Zeit des Umhertreibens schließlich an einer Sandbank vor Malta (vgl. Apg 27). Schließlich bleibt auch noch anzumerken, dass Apg 27 nichts davon weiß, dass Titus den Paulus auf der Seereise an Kreta vorbei nach Rom begleitet hat.
Dass Paulus Titus auf Kreta zurückgelassen hat, wird nur in Tit 1,5 erwähnt. Wo er ihn genau zurückgelassen hat, bleibt offen. Folgen wir der Schilderung der Apostelgeschichte, kommt eigentlich nur der Ort Kaloi limenes – auf Deutsch „Schöne Häfen“ oder „Gute Häfen“ – infrage, denn nur dort legte das Schiff an. Dieser Ort lässt sich nicht sicher lokalisieren, mag jedoch an der Stelle des heutigen Limeonas Kalous gelegen haben. In Apg 27,8 heißt es, er habe in der Nähe der Stadt Lasäa gelegen.
Wörtlich ist V. 5 mit „Ich habe dich zu dem Zweck auf Kreta zurückgelassen, damit du das, was noch fehlte, ordnest und in den einzelnen Städten Älteste einsetzt, so wie ich dir aufgetragen hatte“ zu übersetzen. „Das, was noch fehlte“ („ta leiponta“) haben wir wohl im Sinne von „das, was noch zu regeln war“ zu verstehen. Das seltene Verb „epidiorthoô“, das im NT nur hier vorkommt, dürfte hier „ordnen“ bedeuten. In den Gemeinden auf der Insel Kreta war also noch nicht alles so geregelt, wie es sein sollte, was es zu korrigieren galt. Das, was es – zumindest war dies wohl der entscheidende Punkt - noch zu regeln galt, war die Einsetzung von „Ältesten“. In V. 6 werden die Kriterien genannt, nach denen die Einsetzung erfolgen soll. Insofern kann statt der wörtlichen, aber etwas vagen Übersetzung „so wie ich dir aufgetragen hatte“ von „hôs egô soi dietaxamên“ auch die konkretere Übersetzung „nach den Kriterien, die ich dir vorgegeben hatte“ gewählt werden. Das Plusquamperfekt „vorgegeben hatte“ weist darauf hin, dass die Vorgabe der Kriterien wohl erfolgt ist, bevor „Paulus“ den „Titus“ auf Kreta zurückgelassen hat.
Die altgriechische Bezeichnung „presbyteros“ kann einen älteren Mann bezeichnen, aber auch ein Mitglied des Ältestenrates. Da hier von einer Einsetzung die Rede ist, können mit den „presbyteroi“ nur Personen gemeint sein, die mit der Einsetzung durch „Titus“ zu Mitgliedern des Ältestenrates werden. Der Ältestenrat ist das Gremium, das der Gemeinde vorsteht.
Es stellt sich die Frage, ob die Gemeinde oder ein bestimmtes Gremium die Mitglieder des Ältestenrates wählt und „Titus“ sie nur noch bestätigt und formal ins Amt einsetzt, oder ob er sie selbst bestimmt. In letzterem Falle käme ihm eine erhebliche Machtfülle zu. Dabei stellt sich die Frage, ob Titus handelt, also der enge Mitarbeiter des Paulus, dem in dieser Funktion die Amtseinsetzung zugestanden wurde, oder ob „Titus“ handelt, ein Amtsträger mit besonderen Befugnissen, einem frühen Bischof entsprechend. Da es in der Zeit der paulinischen Missionstätigkeit noch keine ausgebildeten Gemeindeämter gab, die Regelung von Gemeindeangelegenheiten also den noch sehr kleinen Gemeinden als Ganzen oblag, weist die Existenz von Ältestenräten in eine spätere Zeit, in der sich zunehmend Gemeindeämter ausbildeten. Der Titusbrief bezieht also vermutlich als Schrift nachpaulinischer Zeit bezüglich der rechten Gemeindeordnung Position.
„In jeder Stadt / in den einzelnen Städten“ haben wir wohl nicht so zu deuten, dass „Titus“ in jeder Stadt, die auf Kreta existierte, Älteste einsetzen sollte. Wir wissen ja gar nicht, ob überhaupt in allen Städten christliche Gemeinden existierten. Vielmehr haben wir „in jeder Stadt / in den einzelnen Städten“ wohl so zu deuten, dass „Titus“ in allen Städten, in denen christliche Gemeinden existierten, Älteste einsetzen sollte.
Die Kriterien betreffen drei verschiedene Aspekte: Zum einen Ehe und Familie (V. 6), zum anderen die Persönlichkeit und Charaktereigenschaften (V. 7-8) und schließlich das stete Bemühen um das „zuverlässige Wort“ (V. 9).
Weiterführende Literatur: Laut J. Luttenberger 2012, 318-320 werde in 1 Tim 1,3 die für Paulus bedeutsame Stadt Ephesus erwähnt, die sowohl aus der Apg als auch aus dem Corpus Paulinum bekannt sei. Diese Verarbeitung von aus Quellen bekannten Gegebenheiten oder Orten spreche für eine persönliche Notiz im Sinne eines Stilmittels der literarischen Pseudepigraphie. Tit 1,5 dagegen berichte über einen aus diesen Quellen nicht in gleichem Umfang belegten Aufenthalt auf der für die Missionsarbeit des Paulus unbedeutenden Insel Kreta. Sofern der Verfasser des Tit nicht aus anderen Referenzen eine zuverlässige Information über einen längeren gemeinsamen Kretaaufenthalt von Paulus und Titus hat, erscheine eine zusammen mit Titus unternommene Kretamission auf diesem Hintergrund als eine sehr weitgehende und für persönliche Notizen als literarischem Stilmittel nicht entsprechende Form der „freien“ Erfindung. Ein solcher Stilwechsel bei der Kreation von persönlichen Notizen zwischen 1 Tim und Tit wäre für literarische Briefsammlungen ebenso ungewöhnlich wie ein Wechsel in der Art der Pseudepigraphie.
G. M. Wieland 2009, 338-354 geht der Frage nach, warum Kreta im Tit eine solch herausragende Bedeutung zukommt. Er legt dar, dass eine ganze Reihe einzigartiger Aspekte des Tit den ganz spezifischen sozialen und kulturellen Realitäten der Insel Kreta zu römischer Zeit entspreche. Dies lege nahe, dass eine kretische Herkunft des Tit nicht ganz so unwahrscheinlich ist, wie oft angenommen. Es gehe offensichtlich um mehr als nur um die rechte Ordnung der christlichen Gemeinden. Der Tit sei wohl als Produkt früher christlicher Mission und als interessantes Beispiel kreativer missionarischer Auseinandersetzung mit einer spezifischen Umgebung zu verstehen. Zu 1,5: Das Verb „epidiorthoô“ („ordnen“), das im NT nur hier vorkomme und auch in vorchristlicher griechischer Literatur extrem selten sei, finde sich in einer kretischen Inschrift des 2. Jh. v. Chr., die sich auf die Aktivität eines regionalen Verwalters beziehe. Und die Formulierung „in den einzelnen Städten“ habe wohl die Vielzahl Bevölkerungszentren an der langen Küste Kretas im Blick, die auf dem Land- und Seeweg leicht zu erreichen gewesen seien.
Zur Kirche als „Haus Gottes“ unter Gesichtspunkten gesellschaftlicher Klassen, gesellschaftlicher Struktur und gesellschaftlicher Spannungen siehe D. C. Verner 1983.
M. S. Robertson 2014, 77-86 geht der Frage nach, ob Tit 1 zu entnehmen ist, dass auch erst vor kurzer Zeit zum Christentum übergetretene Christen Gemeindeleiter werden können. Diejenigen, die dies annähmen, gingen davon aus, dass bei der Abfassung des Tit die Gemeinden auf Kreta noch in den Kinderschuhen gesteckt hätten. Folglich habe Titus die Gemeindeleiter ausschließlich aus kürzlich Konvertierten wählen können. Nirgendwo sage Paulus gemäß den Vertretern dieser Ansicht, dass kürzlich Konvertierte keine Gemeindeleiter werden können. Dagegen spreche jedoch, dass die kretischen Gemeinden schon eine geraume Zeit vor der Abfassung des Tit existiert haben können. Das Ausmaß der Vorgaben im Hinblick auf die auszuwählenden Gemeindeleiter sowie das Erfordernis von deren Bewährung machten deutlich, dass eine gewisse Glaubensreife verlangt wird.
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Beobachtungen: Die V. 7 einleitende Formulierung „ei tis“ ist wörtlich mit „Wenn einer ...“ oder „Wenn jemand ...“ zu übersetzen. „Einer“ bzw. „jemand“ dürfte ein Ältester sein, denn es ist ja von den Kriterien, nach denen Älteste eingesetzt werden sollen, die Rede. „Wenn einer ...“ bzw. „Wenn jemand ...“ klingt so, als sollten nur dann in den einzelnen Städten Älteste eingesetzt werden, wenn sich Gemeindeglieder finden, die den Kriterien entsprechen. Darauf liegt aber wohl nicht das Gewicht der Aussage. Das Gewicht der Aussage liegt vielmehr darauf, dass in den einzelnen Städten Älteste eingesetzt werden, und diese sollen den genannten Kriterien entsprechen. Es wird also als Regelfall angenommen, dass sich geeignete Gemeindeglieder finden lassen. Der Ausnahmefall, dass dies mal nicht gelingen könnte, kommt wohl nicht in den Blick, eben weil dessen Behandlung vom Wesentlichen der Aussage ablenken würde. Insofern gibt die Übersetzung „Ein solcher soll … sein“ am besten den Sinn der Aussage wieder.
Ein Ältester soll „tadellos“ („anenklêtos“) sein, sich also nichts zuschulden kommen lassen. Auch wenn die Tadellosigkeit hier konkret von den Ältesten gefordert wird, handelt es sich doch um etwas, was das Leben eines jeden Christen auszeichnen sollte. So fordert Paulus in 1 Kor 1,8, dass die Christen „am Tag unseres Herrn Jesus Christus“, also am Tag der Wiederkunft Christi und des Jüngsten Gerichts, untadelig sein sollen. Dass die Tadellosigkeit in Tit 1,6 konkret von den Ältesten gefordert wird, lässt sich mit ihrer besonderen Verantwortung und Vorbildfunktion für die Gemeinde erklären.
Es wird davon ausgegangen, dass ein Ältester ein Mann ist. Das bedeutet nicht unbedingt, dass Frauen das Amt grundsätzlich verwehrt ist. Vielmehr spiegelt das antike gesellschaftliche Gepflogenheiten wieder und wohl auch die männerzentrierte Tendenz der Pastoralbriefe.
Wenn „Paulus“ betont, dass ein Ältester Mann einer einzigen Frau sein solle, dann lässt sich daraus schließen, dass es Männer gab, die mehrere Frauen hatten. Ist dies so zu verstehen, dass diese Männer mehrere Ehefrauen hatten? Das ist die nahe liegende Deutung. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass diese Männer neben der Ehefrau auch noch Geliebte hatten oder anderweitig mit Frauen außerhalb der Ehe sexuellen Verkehr hatten. Die Voraussetzung, dass ein Ältester nur eine einzige Frau haben soll, wirft Fragen auf: Darf ein Ältester nach dem Tod seiner Frau erneut heiraten? Darf er sich scheiden lassen und dann eine andere Frau heiraten? Von 1 Tim 5,9 her, wo es im Hinblick auf die in eine Liste einzutragenden Witwen heißt, dass sie eines Mannes Frau sein sollen, ist anzunehmen, dass „Paulus“ von den Amtsinhabern die Einzigehe verlangt. Es ist nämlich unwahrscheinlich, dass Frauen zeitgleich mehrere Ehemänner oder einen Ehemann und dazu Geliebte haben konnten. Die Ältesten betreffend bedeutet das, dass eine erneute Heirat nach dem Tod der Ehefrau oder nach einer möglichen Scheidung nicht erwünscht war.
Bemerkenswert ist, dass nicht gefordert wird, dass ein Ältester unverheiratet lebt. Und wenn er eine Ehefrau haben darf, dann ist wohl auch ehelicher Geschlechtsverkehr erlaubt. Somit kann oder soll ein Ältester auch Kinder haben.
Das Adjektiv „pistos“ kann „gläubig“ oder „treu“ bedeuten. Die Kinder eines Ältesten sollen also gläubige Christen sein und/oder treu. Die Treue kann sich auf Gott und Jesus Christus beziehen, aber auch auf die Eltern, speziell den Vater. Die Treue gegenüber den Eltern, speziell dem Vater, wäre wohl als Gehorsam zu verstehen. Der Gehorsam kann sich auch auf den Glauben der Eltern bzw. des Vaters beziehen, dem auch die Kinder folgen sollen.
"Asôtia" bedeutet "Verschwendung", "Ausschweifung" oder "Zügellosigkeit". Ob verschwenderischer Umgang mit Geld, extravagantes Zeigen von Wohlstand, ausschweifendes Ausleben sexueller Begierden oder zügelloses Essen und Trinken im Blick ist, lässt sich nicht sagen. Insofern passt hier die allgemeine Deutung „ausschweifendes Leben“ am besten.
Die Kinder sollen „mê en katêgoria asôtias“, also – wörtlich übersetzt – „nicht unter dem Vorwurf des ausschweifenden Lebens stehen“. Sinngemäß bedeutet das, dass sie nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt sein sollen.
Weiterführende Literatur: S. Page 1993, 105-120 nimmt an, dass es bei der Formulierung „Mann einer einzigen Frau“ („mias gynaikos andra“) um die Qualität der ehelichen Beziehung des Amtsanwärters gehe, nicht um den ehelichen Status an sich. Gemeint sei folglich, dass der Amtsanwärter seiner einen Frau treu sein soll (vgl. New English Bible).
M. Betz 2005, 151-164 vergleicht die „Einehe“ der Pastoralbriefe mit der frühkaiserzeitlichen Ehemoral, wie sie uns in Plutarchs Coniugalia Praecepta begegnet, und kommt zu dem Ergebnis, dass viele gemeinsame Züge vorherrschen. Beide entwerfen ein Eheideal, in dem klar der männliche Führungsanspruch verankert sei, was nicht nur für die Familie, sondern auch für die soziale Ordnung von zentraler Bedeutung sei. Man könne bei Plutarch aber feststellen, dass er in diese klassische Vorstellung von Ehe den Aspekt einer geglückten Verbindung von Mann und Frau einbringt. In den Pastoralbriefen komme dagegen dem Aspekt der Kontrolle zentrale Bedeutung zu. In diesem Rahmen sei auch die Forderung nach ehelicher Treue zu sehen, die sich in der Formulierung „Mann [nur] einer Frau“ ausdrücke. Die Treue des Mannes sei ein Indikator für seine Selbstbeherrschung. Die Ordnung der Familie werde durch seine Leitungsfähigkeiten gesichert. In diesem Sinne sei das Ideal der Frau als „Frau [nur] eines Mannes“ das Gegenstück zu „Mann [nur] einer Frau“, nicht weil der Frau die selbe Fähigkeit zur Selbstbeherrschung zugesprochen werde wie dem Mann, sondern weil sie durch männliche Aufsicht dem antiken Idealbild einer sich ihrem Mann unterordnenden, treuen Ehefrau entspreche.
Mit der patristischen Deutung von 1 Tim 3,2.12; Tit 1,6 befasst sich D. G. Hunter 2015, 333-352. Er hat insbesondere die Deutung im Blick, wonach die Ordination von Digamisten, also zweimal nacheinander Verheirateten, untersagt werde.
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Beobachtungen: „(Haus-)Verwalter“ („oikonomos“) ist ein Dienstberuf, der im staatlichen, kultischen und privaten Bereich vorkommt und dem zugleich Würde, Kompetenz und Pflicht zur Rechenschaftsablegung eigen sind.
Völlig unvermittelt spricht „Paulus“ vom „episkopos“, also „Aufseher“ oder „Bischof“. Wie haben wir diese plötzliche Erwähnung zu verstehen? Wird plötzlich der „Aufseher“ bzw. „Bischof“ als Vorbild hinsichtlich der Notwendigkeit der Tadellosigkeit gesehen? Falls es sich bei dem „Aufseher“ bzw. „Bischof“ tatsächlich um ein von den „Ältesten“ unterschiedenes Amt handelt: Welche Befugnisse hat er? Und wie ist sein Verhältnis zu den „Ältesten“? Ist er ihnen wie ein Bischof übergeordnet? Es fällt auf, dass vom „Aufseher“ bzw. „Bischof“ im Singular die Rede ist, von den „Ältesten“ dagegen im Plural (vgl. V. 5). Gibt es nur einen „Aufseher“ bzw. „Bischof“ pro Gemeinde oder gar in einem Gemeindeverbund? Und handelt es sich bei den „Ältesten“ dagegen tatsächlich um ein Gemeindegremium? Oder ist in V. 5 nur deshalb von den „Ältesten“ im Plural die Rede, weil Titus in den einzelnen Gemeinden „Älteste“ einsetzen soll und sich die Mehrzahl nur deshalb ergibt, weil alle „Ältesten“ zusammengenommen eine Mehrzahl darstellen, auch wenn es pro Gemeinde nur einen einzigen „Ältesten“ gibt? Wahrscheinlich ist die Lösung des Auslegungsproblems eine andere: Bei dem „Aufseher“ bzw. „Bischof“ handelt es sich um einen „Ältesten“. Es handelt sich um das gleiche Amt, das nur verschieden bezeichnet wird. Warum die unterschiedliche Bezeichnung ein und desselben Amtes und warum der Wechsel vom Plural zum Singular? Vermutlich drückt „Ältester“ einen Status aus. Der besondere Status liegt im Alter und in der Lebenserfahrung begründet. Einen Ältestenrat gab es schon in der christlichen Jerusalemer Urgemeinde. Und in den Städten des Römischen Reiches gab es ebenfalls Ältestenräte, wenn es sich auch um profane Gremien handelte. Der Begriff „Ältester“ und der Ältestenrat könnten sowohl die Jerusalemer Urgemeinde als auch die profanen Stadtgremien zum Vorbild gehabt haben. Mit dem besonderen Status und der Zugehörigkeit zum Ältestengremium waren auch bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten verbunden. Diese bestimmten Aufgaben und Tätigkeiten kommen wohl in der Bezeichnung „Aufseher“ zum Ausdruck. Auch wenn sich ihr nichts Genaueres entnehmen lässt, können wir doch allgemein sagen, dass die Aufgaben und Tätigkeiten leitender, beaufsichtigender und ordnender Natur waren. Der Singular „Aufseher“ lässt sich zum einen damit erklären, dass Tit 1,5-9 nicht von einer Vielzahl „Ältester“ spricht, auch nicht vom Ältestenrat, sondern von den Kriterien, die jeder einzelne „Älteste“ erfüllen muss. Es geht also um die Eignung des Einzelnen. Darüber hinaus mag aber auch die Entwicklung anklingen, bei der Leitung der Gemeinden Einzelpersonen voranzustellen. Und diese vorangestellten Leitungspersonen mussten natürlich erst recht tadellos sein.
Es fällt auf, dass „Titus“ zwar Älteste einsetzen soll, selbst aber wohl kein „Ältester“ ist, zumindest nicht so bezeichnet wird. Aufgrund seiner einsetzenden Tätigkeit könnte man bei ihm an einen „Aufseher“ bzw. „Bischof“ denken, der den „Ältesten“ übergeordnet ist. Aber auch ein „Aufseher“ bzw. „Bischof“ ist er wohl nicht, zumindest wird er nicht so bezeichnet. Es wird vielmehr der Eindruck vermittelt, dass er ein enger Mitarbeiter des Paulus ist, ohne ein bestimmtes Amt innezuhaben. Selbst wenn „Titus“ bestimmte Amtsinhaber repräsentieren sollte, wird ein enger Paulus-Mitarbeiter suggeriert.
Das Adjektiv „authadês“ kann mit „anmaßend“, „eingebildet“ oder „arrogant“ übersetzt werden. Der Grund, weshalb ein Aufseher eingebildet bzw. arrogant sein könnte, bleibt offen. Der Grund könnte im hohen Alter und damit in der Lebenserfahrung und dem damit verbundenen Ansehen liegen, aber auch in einem hohen gesellschaftlichen Status oder in dem Ältestenamt. Wenn ein Gemeindeglied also eingebildet bzw. arrogant ist, soll es nicht als Ältester bzw. Aufseher eingesetzt werden. Und ein Ältester bzw. Aufseher soll sich auf sein Amt nichts einbilden, denn sein Amt ist keine Auszeichnung, sondern ein Dienst, und zwar sowohl Gott als auch der Gemeinde gegenüber. Er soll auch nicht aus dem Hochmut heraus seine Amtsbefugnisse überschreiten, also sich Rechte anmaßen, die er nicht hat. Das kann man auch so deuten, dass er nicht eigenmächtig entscheiden und handeln soll.
Weiterführende Literatur: Zum Bischofsamt unter Berücksichtigung des Apostels und seiner engsten Mitarbeiter siehe J. Schlosser 2006, 561-596.
Zur Entwicklung der kirchlichen Ämter in frühchristlichen Gemeinden Kleinasiens siehe D.-A. Koch 2010, 166-206, der auf S. 188-204 auf die Pastoralbriefe und Ignatius von Antiochia eingeht. Er stellt fest, dass der Verfasser der Pastoralbriefe am Amt des Bischofs am meisten Interesse habe. Die Entstehung des Amtes des einen Bischofs werde in der Forschung seit langem mit der Abwehr der Gefahr der Irrlehre begründet. Die Signale, die diese Annahme stützen, seien in der Tat mehr als deutlich. Dann ergäben sich aber zwei Fragen: a) Warum wurde nicht sogleich eine monarchische Spitze gebildet, sondern zunächst ein kollektives Leitungsorgan? b) Warum wurde dieses kollektive Leitungsorgan aus „Ältesten“ gebildet? Antwort: Einem „Ältesten“ sei in der Antike Erfahrungswissen und Urteilsvermögen zugeschrieben worden, d. h. Sozialkompetenz. Und in der Regel habe ein „Ältester“ nicht nur sich selbst repräsentiert, sondern den Familienverband, also ein „Haus“ oder eine andere Gruppierung, der er angehörte, in der er seine Sozialkompetenz erworben hatte und in der er wohl in der Regel auch eine bestimmende Funktion innehatte. Und genau diese Kompetenz habe offenbar in die Gemeindeleitung integriert werden sollen, und zwar nicht die eines einzelnen „Ältesten“, sondern die einer Mehrzahl. Die kollektive Führungsstruktur habe dazu gedient, die verschiedenen Teile der Gemeinde durch ihre wichtigsten Vertreter einzubinden und sozusagen alle „mit ins Boot“ zu nehmen.
Während in 1 Tim 5 das Witwen- und Presbyteramt (= Ältestenamt) in Beziehung gesetzt würden, bringe Tit 1,5.7 laut U. Wagener 2004, 82-85 Bischof und Presbyter in Verbindung und identifiziere sie indirekt miteinander. Hier werde ein Prozess des Zusammenwachsens verschiedener Gemeindeordnungen sichtbar.
So wenig es laut M. Theobald 2013, 209-237 befriedige, schon in Tit 1,5-9 das Amt des Episkopen/Bischofs neben dem des Presbyters/Ältesten auffinden zu wollen, so problematisch sei es, von Tit 1,7 her die Identität beider auch in das übrige Corpus Pastorale einzutragen. M. Theobald entwickelt als eigene These, dass der Autor der Pastoralbriefe den Ist-Stand von kirchlichen Strukturen im Blick habe und diesen weiterentwickeln wolle (= Soll-Zustand). Hierzu entwerfe er im literarischen Medium der Brieftrilogie Optionen, die sich dem Leser erst bei deren Durchgang erschlössen. Der Tit habe eröffnenden Charakter und sei mit seinen Themen Taufe und Bekehrung am Anfang christlicher Existenz orientiert. Die Pastoralbriefe stellten einen „Briefroman“ dar und implizierten eine „Geschichte“. Diese würde den Blick nicht nur in die Vergangenheit lenken wollen, sondern zugleich für die Zukunft offen sein, welche der reale Autor gemäß seinen Interessen zu antizipieren wüsste. In Tit 1,6-7 sei ein Übergang von den Presbytern/Ältesten zu den Episkopen/Bischöfen zu erkennen. Kennzeichen der Presbyter sei ihr fortgeschrittenes Alter und ihre Erfahrung. Im Hinblick auf die Episkopen/Bischöfe werde das Kriterium des Alters aufgeweicht. Der Begriff „presbyteroi“ sei in 1,6 als vorgegebene Amtsbezeichnung zu verstehen, „episkopos“ dagegen benenne die vom Autor der Pastoralbriefe favorisierte Funktion des Amtes („Aufseher“).
Das Interesse von O. Hofius 2010, 261-284 gilt der Frage nach Gestalt und Bedeutung der in den Pastoralbriefen bezeugten Ordination. Diese Frage lasse sich ohne Rekurs auf den rabbinischen Ordinationsritus beantworten. O. Hofius befasst sich mit der Terminologie, dem ordinationsgebundenen Amt, dem Ordinator, der Voraussetzung für den Empfang der Ordination, der Handauflegung und der Verleihung des Amtscharismas, der Übergabe der apostolischen Lehrtradition und dem Bekenntnis der Ordinanden, der apostolischen Sukzession und abschließend mit dem soteriologischen Aspekt. „Episkopos“ („Bischof“) sei wörtlich mit „Aufseher“ oder sinngemäß mit „Gemeindeleiter“ zu übersetzen, „episkopê“ („Bischofsamt“) wörtlich mit „Aufseheramt“ oder sinngemäß mit „Amt der Gemeindeleitung“. Bei einer Übersetzung mit „Bischof“ bzw. „Bischofsamt“ dürfe auf keinen Fall einfach das heutige Verständnis dieser Begriffe unterstellt werden. Dass eine Gemeinde nur von einem einzigen „episkopos“ geleitet wird, dürfte in den Pastoralbriefen schwerlich vorausgesetzt sein. Zu denken sei vielmehr an ein von mehreren Personen kollegial ausgeübtes Amt.
J. K. Goodrich 2013, 77-97 vertritt die These, dass einige der von den Aufsehern verlangten Attribute nach den Bedürfnissen und Umständen der Zuhörerschaft der Briefe ausgewählt worden seien, andere dagegen nach dem Vorbild der volkstümlichen Idealisierung des Aufsehers des „Hauses“ (ursprünglich das Familienoberhaupt, mit der Erweiterung der Güter und Leitungsaufgaben zunehmend Verwalter).
B. L. Merkle 2014, 172-188 geht der Frage nach, ob die in 1 Tim 3 und Tit 1 geforderten Qualifikationen von Ältesten und Bischöfen verhandelbar sind, also nicht so streng oder nur in bestimmten Kontexten zu beachten sind. Ergebnis: Die geforderten Qualifikationen sind nicht verhandelbar und gelten auch heute noch.
Mit den Lasterkatalogen in den Pastoralbriefen befasst sich R. F. Collins 2011, 7-31. Bei dem Lasterkatalog handele es sich um eine literarische Form, die oft von den antiken Moralphilosophen – insbesondere von den Stoikern und Kynikern - verwendet worden sei. Der Lasterkatalog zähle eine Vielzahl von Lastern auf, um diejenigen zu diskreditieren, deren Lebensstil die Moralphilosophen kritisierten. Auch in den Pastoralbriefen fänden sich Lasterkataloge (1 Tim: 5; 2 Tim: 1; Tit: 2). Entscheidend sei die Wirkung der gesamten Aufzählung, nicht die Bedeutung einzelner Laster. Von den vielen in den Pastoralbriefen aufgezählten Lastern handelten nur zwei von der Sexualität. Diese würden jeweils nur einmal erwähnt. Die Verfasser der Pastoralbriefe seien mehr an persönlichen Qualitäten als an abstrakten moralischen Aspekten interessiert. Meist seien die Laster als Adjektive oder Partizipien formuliert, seltener als Nomen.
Zu den Aspekten der Weiblichkeit und Männlichkeit in den Tugend- und Lasterkatalogen 1 Tim 3,2-7 und Tit 1,6-9 siehe M. Villalobos Mendoza 2014, 147-166.
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Beobachtungen: Warum soll der Aufseher gastfreundlich sein? Machen wir uns bewusst, dass der Aufseher eine Amtsperson ist, dann wird der Besuch nicht nur aus Verwandten oder Freunden bestanden haben. Vielmehr wird der Aufseher auch Gäste aufgenommen haben, zu denen er keine besondere persönliche Beziehung hatte. Die Gastfreundschaft dürfte auch auf Gesandte oder Amtspersonen anderer Gemeinden zu beziehen sein. Wir haben also davon auszugehen, dass hier eine Gastfreundschaft im Rahmen des Christentums, der geistlichen Familie, gemeint ist. Dass auch Juden oder Heiden in die Gastfreundschaft einbezogen sind, ist nicht auszuschließen. Allerdings sind sie nicht an erster Stelle im Blick. Und bei Heiden ist zu bedenken, dass Christen zu diesen ein sehr distanziertes Verhältnis hatten. Bei der Aufnahme von Heiden wäre sicherlich gleich das Bedürfnis aufgekommen, sie zum christlichen Glauben und somit zum Seelenheil zu bekehren.
Unklar ist, wie wir genau „hosios“ („heilig“) zu verstehen haben. Vermutlich ist „fromm“ oder „gottgefällig“ gemeint, die Übereinstimmung von Glaube und Handeln mit dem Evangelium.
Das Adjektiv „enkratês“ kommt im NT nur in Tit 1,8 vor. Es kann zwei Bedeutungen haben, entweder „beherrscht“ oder „maßvoll/enthaltsam“. Es ist also wohl gemeint, dass der Aufseher Maß halten soll, sei es hinsichtlich der Gefühle, hinsichtlich des Essens und Trinkens, hinsichtlich materieller Gelüste oder auch hinsichtlich der Sexualität.
Der Verfasser des Tit verwendet Begriffe, die sich in den gemeinhin für echt gehaltenen paulinischen Briefen nicht finden: authadês (eingebildet), orgilos (jähzornig), paroinos (trinksüchtig/Säufer), plêktês (gewalttätig/Schläger), philoxenos (gastfreundlich), philagathos (dem Guten zugetan), hosios (heilig), enkratês (beherrscht/maßvoll). Diese besondere, für die Pastoralbriefe typische Wortwahl samt Vokabeln, die sich nur im Tit finden, lässt annehmen, dass der Apostel Paulus nicht der Verfasser des Tit (und auch nicht der beiden anderen Pastoralbriefe) ist, auch wenn Tit 1,1 dies suggeriert. Bemerkenswerte Ähnlichkeiten des Vokabulars mit 1 Tim 3,2-4, wo Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften des Bischofs (ebenfalls als „episkopos“ bezeichnet, wobei in 1 Tim 3,2 als Amt und weniger als Funktion verstanden) im Blick sind, legen nahe, dass der Verfasser des Tit mit dem des 1 Tim identisch ist. Allerdings ist das gewählte Vokabular nicht gleich, weshalb bezüglich dieses Schlusses Vorsicht angebracht ist. Auch ist zu bedenken, dass Vokabular einfach übernommen werden kann, sofern der Verfasser des einen Briefes den anderen Brief und dessen Wortlaut kennt.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: „Antechomenon“ bedeutet „an etwas festhaltend“ oder „sich an etwas haltend“, kann hier aber flüssiger mit „stets bemüht um“ übersetzt werden. Das, worum ein Aufseher stets bemüht sein soll, wird mit dem Genitiv angeschlossen, nämlich um das „zuverlässige Wort“ („pistou logou“). Mit dem „Wort“ ist hier wohl kein einzelnes Wort gemeint, auch keine bestimmte Aussage und auch nicht das Evangelium. Das Evangelium kann schon deswegen nicht gemeint sein, weil es selbst die Richtschnur ist, und zwar die Richtschnur rechter Lehre, sich aber nicht nach einer Lehre - auch nicht nach der rechten Lehre – richtet. Das „Wort“ dagegen, das in Tit 1,9 gemeint ist, richtet sich nach der Lehre und ist damit zuverlässig, vertrauenswürdig.
Doch was ist mit der „Lehre“ („didachê“) gemeint? Um die Bedeutung des Begriffs und auch des gesamten V. 9 zu verstehen, müssen wir uns bewusst machen, dass Lehre zum einen die Lehre an sich, zum anderen aber auch die Handlung des Lehrens oder Belehrens meinen kann. Das Lehren erfolgt im Sinne des Unterrichts, das Belehren im Sinne einer Korrektur. Die Lehre ist die Grundlage, auf der die Lehre bzw. Belehrung als Handlung erfolgt. Die Lehre muss dem Evangelium entsprechen. Paulus (wie auch seine Mitarbeiter) hat das Evangelium recht gepredigt und es recht unterrichtet. Die rechte Predigt und der rechte Unterricht dürften als „Lehre“ („didachê“) verstanden sein. Die Aufseher gehören zu denjenigen, die die Predigten gehört haben und recht unterrichtet worden sind. Sie kennen die am Evangelium ausgerichtete rechte „Lehre“ („didaskalia“; im Sinne des Dogmas) und sind kraft ihres Amtes nun selbst aufgefordert, das Evangelium zu predigen und die „Lehre“ zu unterrichten. Am Evangelium ausgerichtete Predigt und Unterricht anhand der rechten „Lehre“ dürften das „zuverlässige Wort“ sein, um das sie sich stets bemühen sollen.
Mit der „gesunden Lehre“ ist wohl die am Evangelium und somit auch an der paulinischen Theologie ausgerichtete rechte Lehre im Sinne eines Dogmas gemeint. Die Formulierung „gesunde Lehre“ ist der Welt des Körpers und auch des Geistes entnommen. Ein gesunder Körper ist erstrebenswert und verheißt ein langes und unbeschwertes Leben. Wenn auch der Geist gesund ist, dann ist die Grundlage für ein langes, unbeschwertes und glückliches Leben vollkommen. Wenn „Paulus“ von einer „gesunden Lehre“ spricht, dann geht es ihm aber nicht in erster Linie um den Körper und den menschlichen Geist und um diesseitiges Glück, sondern es geht ihm um die ganze Existenz des Menschen, die auch das Jenseits, das Leben nach dem Verscheiden aus dem irdischen Leben, umfasst.
Nur wenn sich ein Aufseher stets um das „zuverlässige Wort, das der Lehre entspricht“ bemüht, wird er die „gesunde Lehre“ zum Inhalt seiner eigenen Predigten und seines eigenen Unterrichtes machen. Er predigt und unterrichtet dann dogmatisch richtig und die Predigt und der Unterricht können zwei Funktionen erfüllen: Es können Christen in der „gesunden Lehre“ bestärkt werden und es können diejenigen, die widersprechen, widerlegt werden.
Die Übersetzung „stärken“ resultiert aus einem Übersetzungsproblem: Das zugrunde liegende Verb „parakaleô“ hat ein breites Bedeutungsspektrum, das von „ermahnen“ über „stärken“ und „ermuntern“ bis hin zu „trösten“ reicht. Alle diese Bedeutungen dürften im Blick sein, weshalb eine Übersetzung zu wählen ist, die möglichst viele dieser Bedeutungen abdeckt und im Optimalfall auch – wie die Formulierung „gesunde Lehre“ – an die Welt des Körpers anklingt. Die Übersetzung „unterweisen“ könnte zwar im Sinne des genannten Bedeutungsspektrum gedeutet werden, lässt jedoch an Unterricht denken. „Unterrichten/Lehren“ ist aber nicht das, was das Verb „parakaleô“ aussagt. Gehen wir das Bedeutungsspektrum der Reihe nach durch: Die Ermahnung erfolgt dann, wenn ein Gemeindeglied drauf und dran ist, Irrlehren zu folgen und zu verbreiten und sich falsch zu verhalten, oder bereits Irrlehren verbreitet und sich falsch verhält. In dem Fall hat die Ermahnung die Aufgabe, das Gemeindeglied von einer Irrlehre und von entsprechendem Fehlverhalten abzuhalten oder es wieder zur rechten Lehre und zum rechten Verhalten zurückzuführen. Dabei ist an ein Gemeindeglied gedacht, das noch nicht (gänzlich) auf Abwege geraten ist, sich also von einer Irrlehre und dem falschen Verhalten abhalten oder sich zum rechten Glauben und zum rechten Verhalten zurückholen lässt und nicht widerspricht. Die Ermahnung erfolgt insbesondere gegenüber einem Gemeindeglied, das im Glauben schwach ist und daher auf Abwege zu geraten droht oder gerät. Die Ermahnung ist also eine Stärkung des glaubensschwachen Gemeindeglieds im rechten Glauben und Verhalten. Hier schließt die Bedeutung „stärken“ an, wobei eine Stärkung im rechten Glauben und Verhalten nicht nur bei einem glaubensschwachen Gemeindeglied gut und wichtig ist, sondern bei allen Gemeindegliedern. Es geht darum, Gemeindeglieder gegenüber Irrlehren immun zu machen und sie auf dem rechten Glaubensweg – verstanden auch als rechter Lebenswandel - zu halten. Dem entspricht auch die Bedeutung „bestärken“, allerdings mit dem Unterschied, dass eine Bestärkung sich in erster Linie an Gemeindeglieder richtet, die in ihrem Glauben und Verhalten bereits gefestigt sind. Diese Gemeindeglieder müssen in ihrer Festigkeit nur noch bestärkt werden. Auch eine Bestärkung ist eine Stärkung, allerdings auf einer bereits vergleichsweise festen Glaubensgrundlage. Die Bedeutung „ermuntern“ enthält einen Handlungsimpuls, der sich auf intensivere Beschäftigung mit der christlichen Lehre, auf Verbreitung des christlichen Glaubens, auf Gemeindeaufbau oder auf bestimmte, wünschenswerte Verhaltensweisen beziehen kann. Und schließlich gehört auch noch „trösten“ zum Bedeutungsspektrum des Verbs „parakaleô“. Dabei haben wir nicht in erster Linie an die profane Bedeutung zu denken, wonach einem traurigen oder trauernden Menschen Trost gespendet wird. Diese Bedeutung mag auch enthalten sein, aber in erster Linie bezieht sich der Trost auf das Heil des Menschen. Es geht um die Zweifel, Bedrängnis und Verfolgungen, die für die christliche Existenz typisch sind. Bei alledem gilt es, beim christlichen Glauben zu bleiben, sich zu ihm zu bekennen und auch Bedrängnis und Verfolgung in Kauf zu nehmen. Das kann durchaus schwer fallen und da bedarf es eines Menschen, der beisteht, stärkt und ermuntert – all dies ist im „Trost“ enthalten und Aufgabe der Aufseher. Beim gesamten Bedeutungsspektrum von „parakaleô“ geht es um Stärkung im Hinblick auf das Heil (insbesondere ewiges Leben), das es zu erlangen gilt. Der Weg zum Heil ist lang und man kann ihn auch als Wettrennen verstehen. Wer eine lange Wanderung vor hat oder ein Wettrennen gewinnen will, bedarf eines kräftigen und gesunden Körpers. Dementsprechend braucht ein Mensch, der das Heil erlangen will, einen kräftigen Glauben.
Das Ermahnen, Stärken, Bestärken, Ermuntern und Trösten erfolgt „in der gesunden Lehre“. Der Übersetzung „in“ liegt die Präposition „en“ zugrunde, die auch „durch“ bedeuten kann. „In der gesunden Lehre“ kann also verschieden gedeutet werden: So kann es ein Heilsraum sein, in dem das Predigen und Unterrichten des Aufsehers erfolgt. „Heilsraum“ ist zum einen im Sinne einer Grundlage zu verstehen, auf der der Aufseher wirkt bzw. wirken soll, zum anderen aber auch als ein Raum, in dem Gott, Jesus Christus oder der heilige Geist Heil bewirkt. Dem Aufseher wird Heil zuteil und sein Wirken führt dazu, dass auch anderen Menschen Heil zuteil wird. Das Mittel, mit dem auch anderen Menschen Heil zuteil wird, ist die „gesunde Lehre“, wie die ebenfalls mögliche Deutung und Übersetzung „durch die gesunde Lehre“ deutlich macht.
Wenn als zweite Aufgabe des Aufsehers das Widerlegen derjenigen, die widersprechen, genannt wird, dann bedeutet das, dass manche Gemeindeglieder schon ziemlich kräftig auf Abwege geraten sein können. Wenn jemand sich schon so tief in der Gedankenwelt einer Irrlehre verfangen hat, dass ihm die rechte Lehre falsch vorkommt, dann wird er der vom Aufseher vorgebrachten „gesunden Lehre“ widersprechen. Dann gilt es, dass der Aufseher nicht einfach klein bei gibt oder das auf Abwege geratene Gemeindeglied aufgibt, sondern dass er es widerlegt. Er muss darlegen, dass es sich bei der Lehre des Gemeindegliedes um eine Irrlehre handelt, und versuchen, es wieder zur rechten Lehre und damit auch zum rechten Verhalten zurückzuholen. Der „gesunden Lehre“ widersprechen können auch Nichtchristen. Auch sie gilt es sicherlich zu widerlegen, allerdings ist davon auszugehen, dass der Fokus von Tit 1,5-9 auf dem Gemeindeleben liegt.
Weiterführende Literatur: Im Rahmen seiner Abhandlung über die Frage, wann die christliche Theologie beginnt, befasst sich H. Donneaud 2011, 51-72 auch mit der Frage, wie das Verb „elenchô“ (und das Substantiv „elegmos“) zu übersetzen ist. In der Septuaginta dominiere klar ein moralischer Sinn, und zwar in Verbindung mit dem Thema der göttlichen Zucht. Die Vorstellungen des Tadels, des Rufs zur Umkehr und der Ermahnung fänden sich im Ruf zum Heil verbunden. Auch im NT samt den Pastoralbriefen habe das Verb „elenchô“ oftmals diese Bedeutung. Allerdings seien in den Pastoralbriefen neben der moralischen Bedeutung auch die intellektuelle Bedeutung „widerlegen“ und die doktrinäre Bedeutung „einen Irrtum nachweisen“ zu bedenken.
Literaturübersicht
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