Tit 1,10-16
Übersetzung
Tit 1,10-16:10 Denn es gibt viele Aufsässige, Schwätzer und Betrüger, besonders die aus der Beschneidung, 11 denen man den Mund stopfen muss, die ganze Häuser verwirren, indem sie um schändlichen Gewinnes willen lehren, was sich nicht gehört. 12 Es hat einer von ihnen, ihr eigener Prophet, gesagt: „Kreter sind immer Lügner, schlimme Bestien, faule Bäuche“. 13 Dieses Zeugnis ist wahr. Darum widerlege sie mit Strenge, damit sie im Glauben gesund werden 14 und sich nicht mit jüdischen Fabeln abgeben und mit Geboten von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden. 15 Den Reinen ist alles rein, den Befleckten und Ungläubigen dagegen ist nichts rein, sondern ihre Gesinnung und ihr Gewissen sind befleckt. 16 Sie beteuern, Gott zu kennen, aber mit den Werken verleugnen sie [ihn], die sie verabscheuenswerte, ungehorsame und zu jedem guten Werk unbrauchbare [Menschen] sind.
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Beobachtungen: Nachdem „Paulus“ in V. 9 zu den Aufgaben der Ältesten bzw. Aufseher neben der Stärkung der Gemeindeglieder „in der gesunden Lehre“ (oder: „durch die gesunde Lehre“) auch die Widerlegung derer, die der „gesunden Lehre“ widersprechen, gezählt hat, kommt er nun auf diejenigen zu sprechen, die nicht der „gesunden Lehre“ folgen, sondern andere Lehren verbreiten. Diese Menschen dürften an erster Stelle zu denen gehören, die der „gesunden Lehre“ widersprechen.
Die Ausdrücke „Aufsässige“ („anypotaktoi“), „Schwätzer“ („mataiologoi“) und „Betrüger“ (phrenapatai“) sind mit Blick auf die Irrlehren zu deuten: „Aufsässig“ sind Menschen, die nicht dem gehorchen, dem sich zu gehorchen geziemt. So war schon in V. 6 davon die Rede, dass die Kinder eines Ältesten nicht aufsässig sein sollen. Sie sollen also ihren Eltern und speziell ihrem Vater gehorchen. Die Irrlehrer sind auch Aufsässige, aber nicht ihren Eltern oder speziell ihrem Vater gegenüber, sondern der „gesunden Lehre“ (vgl. V. 9) gegenüber. Zudem sind sie Schwätzer, weil sie Lehren verbreiten, die nicht der „gesunden Lehre“ entsprechen und nicht zum Heil führen, also nichts als leeres Gerede sind. Weil sie aber so tun, als würden ihre Lehren zum Heil führen, sind die Irrlehrer Betrüger.
„Die aus der Beschneidung“ sind vermutlich Judenchristen. Die Beschneidung der Jungen am Glied gilt den Juden als Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Gottes (= JHWHs, des Gottes der Israeliten/Juden; zum Gebot der Beschneidung siehe Gen 17,10-11). Die Präposition „aus“ („ek“) lässt erkennen, dass die Irrlehrer aus dem Judentum kommen, aber keine Juden (im engeren Sinne) mehr sind. Offen bleibt, ob „die aus der Beschneidung“ noch die Tora befolgen oder ob sie nur der Herkunft nach Juden sind.
Weiterführende Literatur: Laut R. Van Neste 2002, 119-133 wiesen lexikalische Wiederholungen auf ein hohes Maß an Kohäsion hin: Der Abschnitt 2,1-3,8 hänge zusammen, 1,10-16 und 3,9-11 bildeten um 2,1-3,8 herum die inclusio und die dogmatischen Abschnitte seien eng mit der Einleitung verbunden.
R. Amici 2008, 455-473 geht den verschiedenen Aussagen zu Irrlehrern und deren Lehren nach, wie sie sich in den Briefen an Timotheus und Titus finden. Zu Tit 1,10: Hier seien jüdische Irrlehrer im Blick. Der Verfasser der Pastoralbriefe wende sich gegen strenge Befolgung kultischer Reinheitsgebote und gegen das Befassen mit - vermutlich jüdischer Glaubenswelt entstammenden - Fabeln und endlosen Geschlechtsregistern (vgl. 1 Tim 1,4).
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Beobachtungen: Das Adjektiv „holos“ kann „ganz“ oder „alle“ bedeuten. „Holous oikous“ kann somit sowohl „ganze Häuser“ als auch „alle Häuser“ bedeuten. Mit dem „Haus“ ist hier nicht ein Gebäude gemeint, sondern eine Wohn- und Lebensgemeinschaft. Dieser gehören nicht nur die Familienangehörigen des Familienoberhauptes an, sondern auch die Sklaven. Es geht also um die Wirkung, die die Irrlehren auf die Wohn- und Lebensgemeinschaften haben. Die Wirkung betrifft zum einen den Glauben der einzelnen Angehörigen, dann aber auch das Zusammenleben.
Um die Wirkung der Irrlehren zu beschreiben, verwendet „Paulus“ das Verb „anatrepomai“, das hier „durcheinanderbringen / verwirren“, „umstürzen“ und „zerstören“ bedeutet. Folgendes Szenario hat „Paulus“ vor Augen: Ein „Haus“ hängt dem christlichen Glauben an. Eines Tages kommen Angehörige dieses „Hauses“ mit einer Irrlehre in Kontakt. Zunächst einmal verwirrt sie diese Irrlehre, denn sie entspricht nicht dem, was sie bisher geglaubt haben. Nun gibt es drei Möglichkeiten, wie es weitergehen kann. Die erste Möglichkeit ist, dass die Angehörigen standhaft bei ihrem christlichen Glauben bleiben. Dazu beizutragen, dass die Gemeindeglieder fest zu ihrem christlichen Glauben gemäß dem Evangelium und der „paulinischen“ (= von „Paulus“ für paulinisch gehaltenen) Theologie stehen, ist eine der Aufgaben der Aufseher (vgl. V. 9). Eine solche Standfestigkeit ist aber keineswegs sicher. Es ist durchaus möglich, dass die Angehörigen des „Hauses“ in ihrem Glauben unsicher werden und nicht mehr wissen, was richtig ist und was falsch. Dann wird die Verwirrung zu einem Zustand. Es kann aber auch sein, dass die Angehörigen des „Hauses“ von ihrem christlichen Glauben abfallen und sich der Irrlehre zuwenden. Dann wird der Glaube der Angehörigen des „Hauses“ umgestürzt und – anders ausgedrückt – zerstört.
Nun gilt es zu bedenken, dass die Charaktere und die Glaubensüberzeugungen der Angehörigen des „Hauses“ nicht unbedingt gleich sind. Es kann also sein, dass nur ein Angehöriger des „Hauses“ der Irrlehre verfällt, aber es kann auch sein, dass die Irrlehre weitere Angehörige ansteckt. Es besteht somit die Gefahr, dass das ganze „Haus“ der Irrlehre verfällt, vor allem dann, wenn das Familienoberhaupt der Irrlehre verfällt und/oder ein gemeinsamer Glaube angestrebt wird. Wenn aber die ersten „Häuser“ der Irrlehre verfallen sind, kann diese immer leichter ihre Kreise ziehen, weil sie zunehmend gesellschaftliche Anerkennung findet. Dann besteht die Gefahr, dass – so der Extremfall – alle „Häuser“ der Irrlehre verfallen. Nun könnte man fragen, wo denn das Problem liegt, wenn die „Häuser“ dem Glauben anhängen, der ihnen am besten erscheint. Aus Sicht des „Paulus“ geht es nicht nur um einen privaten, individuellen Glauben, sondern es geht um das Heil. Bei der Aussage, dass „Häuser“ zerstört werden, klingt also mit, dass sie des Heiles verlustig gehen und am Ende ewiges Verderben zu erwarten haben.
Das Substantiv „kerdos“ bedeutet ganz allgemein „Gewinn“, wobei dieser Gewinn geistlich, ideell, materiell oder finanziell sein kann. Dass hier aber von einem „schändlichen Gewinn“ die Rede ist, weist darauf hin, dass hier ein materieller oder – wahrscheinlicher noch - finanzieller Gewinn im Blick ist. Die Irrlehrer erscheinen also als geldgierige Leute, die mit unsinnigen Irrlehren („was sich nicht gehört“) Menschen in ihren Bann ziehen und dann für ihre Lehre Geld nehmen und sich so bereichern.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Es folgt nun eine Charakterisierung der Kreter. Diese Charakterisierung kommt nicht von „Paulus“, sondern – „Paulus“ ist das wichtig zu betonen - von einem Kreter. Dabei ist nicht ein Individuum im Blick, das eine Aussage macht und dem dann von anderen Kretern widersprochen wird, sondern die Aussage des Kreters wird gleich einer Selbstcharakterisierung des gesamten Volkes für bare Münze genommen. Es ist ja auch nicht irgendjemand, von dem die Aussage stammt, sondern „ihr eigener Prophet“. Bei der Formulierung fragt man sich, ob die Kreter nur einen einzigen Propheten in ihren Reihen haben. Das kann sein, aber es drängt sich eine andere Vermutung auf: Es gibt eine Mehrzahl kretische Propheten, aber „Paulus“ will die Kreter als ganz übel darstellen, um die Irrlehrer zu diskreditieren. Dazu zieht er eine ihm passende Aussage heran, entweder weil er nur diese kennt oder weil die anderen Aussagen – von welchem Propheten auch immer - nicht so treffend sind oder ein anderes Bild vermitteln und daher nicht genehm sind. Der Aussage des Propheten kommt besonderes Gewicht zu, weil ein Prophet ein „Sprachrohr Gottes“ ist. Dabei ist die Aussage keine Weissagung, sondern eine – zumindest der Ansicht des „Paulus“ nach – treffende Charakterisierung eines Volkes.
Aber was für ein Gott gibt die Verlautbarungen ein? Und mit was für einem Propheten haben wir es zu tun? Wenn „Paulus“ die Aussage für bare Münze nimmt, muss er von ihrer Richtigkeit überzeugt sein. Folglich kann der Prophet aus seiner Sicht kein Lügenprophet sein. Und der Gott, dessen „Sprachrohr“ der Prophet ist, muss eine richtige Sicht der Dinge haben. Jetzt kommen wir aber zu einer Ungereimtheit: Wie kann ein Prophet vom Volk der Kreter, die immer, also ohne Ausnahme, Lügner sind, Wahres von sich geben? Müsste nicht auch ihr Prophet ein Lügner sein und der Gott, der hinter den Aussagen des Propheten steckt, ein falscher Gott? Diese Ungereimtheit lässt sich nicht mit Logik auflösen, weil es „Paulus“ im Hinblick auf die Irrlehrer und Kreter nicht um Logik geht. Er hat kein anderes Ziel, als vor der Gefahr der Irrlehrer zu warnen. Und weil die Irrlehrer mit den Kretern in Verbindung stehen, stellt er diese in den finstersten Farben dar. Wir bekommen also ein gänzlich subjektives, von einer ganz bestimmten Aussageabsicht geprägtes Bild von den Kretern. Die Prophetenaussage wird für die Vermittlung des gewünschten Bildes instrumentalisiert und es ist dabei völlig irrelevant, mit was für einem Propheten wir es zu tun haben und mit was für einem Gott. Eine möglichst objektive Betrachtung, wie die Kreter wirklich waren, erhalten wir nicht.
Das Substantiv „thêrion“ bedeutet allgemein „Tier“ oder konkret „wildes Tier“. Die Kreter sind demnach wilde Tiere. Hier wird der Begriff als Bild für Menschen verwendet, von denen Gefahr ausgeht, nämlich falsche Lehre. Dabei handelt es sich um eine große Gefahr, weshalb die Übersetzung „Bestien“ passt. Und um an der Gefahr wirklich keinen Zweifel zu lassen, setzt „Paulus“ noch eins oben drauf und bezeichnet die Bestien als „schlimm“.
Die „schlimmen Bestien“ („kaka thêria“) sind ein Bild für eine große Gefahr. Konkret geht von den „wilden Bestien“ die Gefahr des Zerfleischt- und Aufgefressenwerdens aus. Hat „Paulus“ dies so konkret im Blick und deutet er dies theologisch? Dass dies der Fall ist, darauf weist die folgende Charakterisierung der Kreter als „faule Bäuche“ (oder: „faule Mägen“; „gasteres argai“) hin, denn das verschlungene Fleisch landet ja im Magen, also Bauch. Doch was hat ein Bauch mit einem Kreter zu tun? Und wie kann ein Bauch faul sein? Was bedeutet „faul“ im Hinblick auf einen Bauch? Eigentlich wäre doch anzunehmen, dass ein gefräßiges wildes Tier einen sehr aktiven Magen hat, der viel Magensäure produziert, damit überhaupt die Beute verdaut werden kann! Wie lässt sich diese Ungereimtheit auflösen? Es legt sich nahe, „schlimme Bestien“ und „faule Bäuche“ nicht nur auf wilde Tiere zu beziehen, sondern allgemeiner zu deuten: Es geht nicht nur um das Zerfleischen und Verschlingen einer Beute, sondern die Formulierung „schlimme Bestien“ sagt auch allgemein aus, dass die Kreter grobe Menschen sind, ungehobelt und ohne Benehmen. Diese groben Menschen sind gefährlich, weil von ihnen Irrlehren ausgehen. Auch die „faulen Bäuche“ können allgemeiner gedeutet werden: So kann der „Bauch“ für Genusssucht stehen, womit die Kreter als genusssüchtig dargestellt werden. Aber auch bei dieser allgemeineren Deutung bleibt unklar, weshalb der „Bauch“ als „faul“ bezeichnet wird. Haben wir es mit der Müdigkeit und Trägheit zu tun, die sich bei vollem Magen einstellt? Oder besagt die Formulierung „faule Bäuche“, dass die Kreter zum einen faul, zum anderen genusssüchtig sind? Da „argos“ („faul“) auch „unnütz“ bedeuten kann, könnte auch ausgesagt sein, dass die Kreter faul, nichtsnutzig und genusssüchtig sind. Mit all diesen Aspekten erfassen wir wohl das Bedeutungsspektrum der sehr abschätzigen und vorurteilsgeladenen Charakterisierung „schlimme Bestien, faule Bäuche“. Abschließend ist auch noch einer seltenen, speziellen Bedeutung des Begriffs „gastêr“ Beachtung zu schenken: Mit „gastêr“ kann auch ein Darm voll Hackfleisch gemeint sein, nämlich die Wurst oder Blutwurst. Ein wildes Tier frisst seine Beute, die schließlich Hackfleisch ähnlich erst im Magen und dann im Darm landet. Darüber hinaus kann eine Wurst bzw. Blutwurst, die in Darm gehüllt ist, für leckere und reichhaltige Speisen stehen, die wiederum auf die Genusssucht der Kreter hinweisen. Und diese leckeren und reichhaltigen Speisen landen ja letztendlich ebenso wie die Beute eines wilden Tieres erst im Magen und dann im Darm.
Diese sehr negative Darstellung der Kreter schließt strenggenommen auch sämtliche Christen auf Kreta ein. Das bedeutet aber auch, dass bezüglich der Gemeinden nichts Positives zu erwarten ist, zumal ja die einzusetzenden Ältesten bzw. Aufseher Kreter sein können. Aber wie kommt es, dass „Paulus“ alle möglichen Vorgaben bezüglich der Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen der Ältesten bzw. Aufseher macht (vgl. V. 5-9), wenn Kreter diese grundsätzlich nicht erfüllen können?
Weiterführende Literatur: G. M. Wieland 2009, 338-354 geht der Frage nach, warum Kreta im Tit eine solch herausragende Bedeutung zukommt. Er legt dar, dass eine ganze Reihe einzigartiger Aspekte des Tit den ganz spezifischen sozialen und kulturellen Realitäten der Insel Kreta zu römischer Zeit entspreche. Dies lege nahe, dass eine kretische Herkunft des Tit nicht ganz so unwahrscheinlich ist, wie oft angenommen. Es gehe offensichtlich um mehr als nur um die rechte Ordnung der christlichen Gemeinden. Der Tit sei wohl als Produkt früher christlicher Mission und als interessantes Beispiel kreativer missionarischer Auseinandersetzung mit einer spezifischen Umgebung zu verstehen. Zu 1,2.12: Der Gott, der nicht lügt, werde wohl nicht nur den stets lügenden Kretern, sondern auch ihrem für Täuschung und Betrug bekannten Gott Zeus gegenübergestellt. Dass die Kreter als „wilde Bestien“ dargestellt werden, habe angesichts der Tatsache, dass Kreta als frei von wilden Tieren gegolten habe, ironischen Charakter: Auf Kreta habe es gemäß dem Tit durchaus „wilde Bestien“ gegeben, allerdings menschliche.
Das garstige Wort über die Kreter, das Tit 1,12 zitiere, zeige laut W. Stegemann 1996, 46-61 zweifellos nicht nur eine ambivalente Einstellung gegenüber einem fremden Volk. Es sei auch kaum als ethnozentrisch zu bezeichnen, denn es gehe hier nicht darum, das eigene Volk in einem Gegensatz zu anderen Ethnien hervorzuheben. Vielmehr reflektiere sich in 1,10-16 eine antike Form von Rassismus.
R. Faber 2005, 135-145 geht davon aus, dass das Zitat V. 12 auf den halbmythischen Dichter und Philosophen Epimenides zurückgehe. Hinsichtlich der Frage nach dessen Funktion kommt er zu dem Ergebnis, dass es den Inhalt von 1,10-16 illustriere. Es sei weder rassistisch noch polemisch oder philosophisch zu verstehen, sondern es mache nur deutlich, dass Irrlehre mit moralischer Verderbnis einher gehe.
P. Gray 2007, 302-314 legt dar, dass Odysseus im Ruf gestanden habe, ein außergewöhnlich guter Lügner gewesen zu sein. Seine Gewohnheit, Lügengeschichten zu erzählen, habe ihm auf seinem Weg zurück vom Trojanischen Krieg das Überleben ermöglicht. In Ithaka schließlich angekommen, habe er bei den Begegnungen mit dem loyalen Schweinehirten Eumaios und mit seiner Ehefrau Penelope zunächst nicht seine wahre Identität offenbart, sondern sich als ein Mann von der Insel Kreta ausgegeben. Diese Verstellung habe zu der verbreiteten Vorstellung gepasst, wonach die Kreter notorische Ausflüchtemacher seien. Diese Vorstellung finde in Homers Darstellung des Odysseus wohl ihren ältesten Beleg und habe wohl ihren Weg in das NT gefunden. Zur Antinomie des Lügners: Wenn Kreter immer Lügner sind und der Sprecher – gewöhnlich als Epimenides identifiziert – ein Kreter ist, dann muss er ein Lügner sein. Und wenn er ein Lügner ist, dann kann sein „Zeugnis“ nicht wahr sein. Wenn sein „Zeugnis“ dagegen wahr ist und tatsächlich Kreter immer Lügner sind, dann kann das nicht auf den kretischen Sprecher zutreffen. Folglich lügt der kretische Sprecher, wenn er die Wahrheit sagt (nämlich, dass alle Kreter immer lügen), oder er sagt die Wahrheit und lügt somit (weil er ja selbst der Beweis dafür ist, dass Kreter nicht immer Lügner sind). P. Gray geht zunächst auf das Lügner-Pardox in der griechisch-römischen Antike ein und wendet sich dann dem Lügner-Paradox im Titusbrief zu. Es werde vor Irrlehrern gewarnt, die sich dialektischem Blendwerk bedienen, während sie ihre Gefolgschaft auf Abwege führen.
Ausführlich mit dem Lügner-Paradox befasst sich auch A. C. Thiselton 1994, 207-223, der deutlich macht, dass es in Tit 1,12-13 nicht auf eine Charaktereigenschaft der Kreter bezogen sei, sondern auf die Vorgehensweise der Bischöfe und Ältesten. Diese sollten sich nicht auf Wortgefechte einlassen, die sich hochschaukeln und letztendlich zu nichts führen, sondern auf rechtes Verhalten setzen.
Laut C. Zimmer 1987, 77-99 verdiene herausgestellt zu werden, dass Tit 1,12 eine wichtige Bezeugung der bereits von den Megarikern ausführlich behandelten Antinomie des Lügners sei. Es handele sich um die erste uns bekannte echte semantische Antinomie, die gerade auch für die moderne Logik von grundsätzlicher Bedeutung sei.
G. M. Lee 1980, 96 weist in einer kurzen Notiz darauf hin, dass der Annahme, dass das Zitat nicht von Epimenides stamme, sondern von einer Wahrsagerin im Austausch von Schmähungen zwischen Delphi und dem „anmaßenden kretischen Seher“ getätigt worden sei, große Wahrscheinlichkeit zukomme. Paulus bzw. der Verfasser des Tit habe also nicht einfach nur einen bekannten Ausspruch zitiert, sondern habe ihn vor Ort in einer Orakelspruch-Sammlung gesehen.
Gemäß J. A. Harrill 2017, 451-472 werde die Forderung, dass das Göttliche ohne Lug und Trug kommuniziert werden müsse, nicht nur im Titusbrief, sondern auch in zeitgenössischen Diskussionen (beispielsweise seitens Plutarch) über den Wahrheitsgehalt von Orakelsprüchen vorgebracht. Tit 1,12 sei ein Beispiel für einen Trend im 2. Jh. n. Chr., aus einem einzeiligen Orakelspruch eine schriftliche Abhandlung über Weissagung zu entwickeln. Ein direkter Rückgriff auf Epimenides, Kallimachos oder philosophische Spekulation über das Lügner-Paradox liege nicht vor. Der Verfasser des Tit gehe davon aus, dass Gott nicht lügt (vgl. 1,2) und sich die Wahrheit, die zur Frömmigkeit führt, erkennen lasst (vgl. 1,1). Er grenze die wahrhaftige göttliche Kommunikation vom Lug und Trug der Irrlehrer ab.
Ausführlich problematisiert M. Vogel 2010, 252-266 die pauschale Kreterschelte, die ungleich kräftiger ausfalle als die Negativwertung des Jüdischen und schwer verständlich sei. In der griechisch-römischen Antike sei jedoch die ethnographische pauschale Zuschreibung von Charaktereigenschaften wie auch deren Verwendung in rhetorischen und mit Vorliebe polemischen Kontexten weder ungewöhnlich noch moralisch anstößig gewesen. Der Tit polemisiere nicht gegen „Juden“, sondern gegen „Kreter jüdischer Herkunft“, und eben nicht gegen „Juden kretischer Herkunft“. Dies sei ethnographisch nicht ein und dasselbe. Alle Schlechtigkeit werde den Kretern angelastet, sofern sie Kreter, nicht sofern sie Juden sind. Sie würden zwar als Juden identifiziert, jedoch als Kreter beschimpft. Alles Fehlverhalten und alle Fehlhaltungen, die der Verfasser den Gegnern ab V. 10 anlaste, entsprängen dem kretischen Volkscharakter, nicht dem jüdischen. Eine explizit antijüdische Polemik sei wohl adressatenbedingt nicht möglich gewesen. Der Verfasser konstruiere deshalb ein kretisches Judenchristentum. Von der Irrlehre sei also Abstand zu nehmen, obwohl sie nach Auffassung der Adressaten durch die jüdische Herkunft ihrer Vertreter besonders ausgewiesen sei. Das in der Forschung verbreitete Bild des zur Zeit der Pastoralbriefe bereits erreichten Stadiums einer reinen Heidenkirche sei dahingehend zu modifizieren, dass es nach wie vor judenchristliche Gruppen gab, die gegenüber Heidenchristen aus ihrem Judentum eine besondere Leitungs- und Lehrautorität ableiteten.
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Beobachtungen: „Dieses Zeugnis“ dürfte die Aussage des Propheten sein. Wenn ein Prophet sie äußert, zumal wenn es einer von den Kretern ist, muss sie ja nicht unbedingt wahr sein. Wir können es ja mit einem Lügenpropheten zu tun haben. Um dieses Missverständnis auszuschließen, betont „Paulus“, dass die Aussage des Propheten wahr ist. Dabei liegt die Betonung wohl nicht auf dem „immer“, denn sonst wären ja auch alle Ältesten bzw. Aufseher der Gemeinden eingeschlossen. Das verallgemeinernde „immer“ dürfte eher im Sinne eines Grundzugs kretischer Charaktereigenschaften verstanden sein, der erklärt, warum gerade auf Kreta die Gefahr von Irrlehren besteht. Dabei lässt „Paulus“ wohl in seinen Worten den Vorurteilen gegenüber den Kretern freien Lauf, weshalb ihm nicht auffällt, was seine Worte strenggenommen im Hinblick auf die Ältesten bzw. Aufseher der kretischen Gemeinden aussagen.
Gemäß V. 9 gehört es zu den Aufgaben der Ältesten bzw. Aufseher, diejenigen zu widerlegen, die widersprechen. V. 13 verankert diese Aufgabe an einem konkreten Ort und in einer konkreten Zeit. Der Ort ist die Insel Kreta, die gemäß der Darstellung des „Paulus“ wegen ihrer liederlichen Bewohner für Irrlehren prädestiniert ist, die Zeit ist die Gegenwart. Die Insel Kreta spielt – folgt man dem Zeugnis der gemeinhin für echt gehaltenen Paulusbriefe und der Apostelgeschichte – hinsichtlich der Missionstätigkeit des Paulus keine nennenswerte Rolle. Dass sie im Tit dennoch solch eine große Rolle spielt, kann zwei Gründe haben: Zum einen mögen zu Zeiten der Abfassung des Tit tatsächlich auf Kreta die Gemeinden in besonderem Maße von Irrlehren bedroht gewesen sein, was die abschließende Ordnung der Gemeinden durch die Einsetzung von Ältesten bzw. Aufsehern erforderlich machte, die dann für die Stärkung der rechten Lehre und für die Eindämmung der Irrlehren zu sorgen hatten. Zum anderen kann aber Kreta im Tit auch deswegen so eine große Bedeutung zukommen, weil es wegen seiner (angeblich) so liederlichen Bewohner besonders geeignet ist, exemplarisch die Gefährdung der Gemeinden und die Notwendigkeit der rechten Lehre und Gemeindeordnung zu verdeutlichen. Kreta kommt also im Tit wohl nicht wegen tatsächlicher Missionstätigkeit des Paulus in den Blick, sondern wegen eines ganz konkreten innerkirchlichen Konfliktes nachpaulinischer Zeit oder wegen der exemplarischen Bedeutung Kretas im Hinblick auf die Gefährdung und Ordnung der Gemeinden.
Das Adverb „apotomôs“ bedeutet nicht nur „streng“ oder „schroff“, sondern auch „entschieden“ und „präzise“. Die Widerlegung soll also nicht einfach nur mit strengen, schroffen Worten geschehen, sondern streng, entschieden und präzise. „Präzise“ bedeutet, dass ganz klar dargelegt wird, wie die „gesunde Lehre“ lautet und inwiefern eine abweichende Lehre irrt. Dabei ist eine Widerlegung keine Diskussion, sondern es wir klar zwischen „richtig“ bzw. „gesund“ und „falsch“ bzw. „krank“ unterschieden, dabei kein Widerspruch geduldet.
Die Formulierung „im Glauben gesund werden“ lässt erkennen, dass der Glaube an eine Irrlehre als eine geistliche Krankheit verstanden wird. Dabei bleibt offen, ob der Mensch, der im Glauben gesund werden soll, immer im Glauben krank war oder im Glauben krank geworden ist Damit bleibt auch offen, ob der Mensch im Glauben gesund werden oder wieder gesund werden soll. Erst aus V. 14 („sich von der Wahrheit abwenden“) geht hervor, dass es – zumindest in erster Linie - um Menschen geht, die im Glauben krank geworden sind und nun wieder gesund werden sollen.
Weiterführende Literatur: D. J. Clark 2002, 101-117 sieht in 1,13b und 3,8b zwei Brüche, die das Briefkorpus 1,13b – 3,8a rahmten.
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Beobachtungen: Die Bezeichnung „mythos“, hier mit „Fabel“ übersetzt, meint eine legendarische Erzählung. Diese hatte sich mit einem Volk aus dem vorgeschichtlichen Dunkel heraus entwickelt und ging Fragen nach Sinn und Wesen der Welt nach. Insofern gab sie eine Weltanschauung wieder. Mythen konnten sehr phantasievoll und lebendig und geradezu ungeheuerlich sein. Es handelte sich um „Geschichte“, allerdings um eine erzählte Geschichte und nicht um Geschichte im heutigen engeren Sinn, wonach Geschichte sich mit Personen, Ereignissen und Zuständen befasst, wie es sie wirklich gab. Ein solches Interesse an historischer Korrektheit gab es zwar auch schon ansatzweise in der Antike, aber es spiegelt sich nicht in den Mythen wieder. Während der aufgeklärte Mensch die Geschichte im engeren Sinn als (historisch) wahr ansieht, erscheinen ihm die Mythen als Fabeln, als blühender Phantasie entsprungene Geschichten. Der unaufgeklärte Mensch der Antike trennte nicht so scharf zwischen (historisch) wahrer Geschichte und fabelhafter Geschichte. Vielmehr sah er in der fabelhaften Geschichte auch (historisch) wahre Geschichte.
„Paulus“, der Verfasser des Tit, hat ein negatives Bild von den Mythen, den Fabeln. Dieses negative Bild liegt aber nicht darin begründet, dass er ihnen das Fehlen von historischer Wahrheit vorwirft. Um historische Wahrheit im aufgeklärt wissenschaftlichen Sinn geht es ihm nicht. Vielmehr wirft er den Mythen, den Fabeln, vor, dass sie für das Heil irrelevant sind. Für das Heil relevant ist nur die paulinische Lehre, die auf dem mit Christus verbundenen Heilsgeschehen gründet.
In Tit 1,14 sind „jüdische Fabeln“ im Blick. Welche damit genau gemeint sind, bleibt im Unklaren. Es kann gesagt werden, dass sie von den Aufsässigen, Schwätzern und Betrügern, besonders von denen aus der Beschneidung, verbreitet werden.
Bei den „Geboten“ (oder: „Vorschriften“) handelt es sich um Gebote von Menschen, nicht von Gott. Diese Gebote haben nichts mit der „Wahrheit“ – gemeint ist vermutlich das Evangelium und die rechte christliche Lehre – zu tun. Sie sind von Menschen ersonnen, die sich von der „Wahrheit“ abwenden. Von der „Wahrheit“ abwenden kann sich nur ein Mensch, der der „Wahrheit“ anhängt. Wir haben es also mit einem innerchristlichen Konflikt zu tun, nicht mit einem Konflikt zwischen Juden und Christen oder zwischen Heiden und Christen. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen den Christen, die dem Evangelium gemäß der „paulinischen“ (= von „Paulus“ für paulinisch gehaltenen) Verkündigung und Lehre anhängen, und den Christen, die sich „jüdische Fabeln“ zu eigen machen und „Gebote“ ersinnen. Bei den „Geboten“ kann ein Bezug auf die jüdischen Gebote vorliegen, aber es können auch andere Gebote gemeint sein. Die Christen auf Abwegen können also Judenchristen sein, aber auch Christen, die nur jüdisch beeinflusst sind, ohne selbst den Juden zu entstammen.
Die Abwendung von der „Wahrheit“ ist in vollem Gange, wie die präsentische Formulierung „die sich von der ‚Wahrheit‘ abwenden“ zeigt. Die V. 13 und 14 beziehen sich also auf alle, die sich bereits von der „Wahrheit“ abgewandt haben und sich noch von ihr abwenden. Sie beziehen sich also auf die Irrlehrer und auf diejenigen, die sich die Irrlehren zu eigen machen, gleichermaßen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: „Rein“ kann im kultischen oder auch moralischen Sinn gemeint sein. Glaube, Denken und Handeln hängen eng zusammen. Die „Reinen“ sind demnach die Christen, die dem Evangelium und der „paulinischen“ (= von „Paulus“ für paulinisch gehaltenen) Lehre folgen und entsprechend handeln. Diese Christen haben sich nichts zuschulden kommen lassen und sich folglich nicht befleckt.
Die Aussage, dass den „Reinen“ alles rein ist, lässt an die Ansicht des Apostels Paulus denken, wonach sich die „Reinen“ von keiner Speise zu enthalten haben. Sie können Götzenopferfleisch oder den Juden unreine Speisen essen, sollen nur darauf achten, dass kein Glaubensgenosse daran Anstoß nimmt (vgl. Röm 14,20). Der christliche Glaube ist entscheidend, nicht die Speise. Über die Speisen hinausgehend können in Tit 1,15 auch rituelle Aspekte gemeint sein. Rechtgläubige Christen sind demnach grundsätzlich nicht verpflichtet, Reinheitsgebote zu halten.
Die „Befleckten“ können alle diejenigen sein, die nicht dem Christentum gemäß dem Evangelium und der „paulinischen“ (= von „Paulus“ für paulinisch gehaltenen) Lehre folgen und entsprechend handeln. Das können zwar auch Heiden und Juden sein, da wir es aber wohl mit einer innerkirchlichen Auseinandersetzung zu tun haben, sind wohl nur die pseudo-christlichen Irrlehrer und ihre Anhänger im Blick. Wodurch genau die Befleckung entstanden ist, wird zwar nicht gesagt, doch ist offensichtlich, dass die Befleckung mit dem falschen Glauben, dem falschen Gedankengut und dem falschen Handeln zusammenhängt.
Die Aussage, dass den „Befleckten“ nichts rein ist, verwundert zunächst. Das würde ja streng genommen bedeuten, dass sie nichts trinken und essen und auch keinen Gottesdienst feiern dürfen. Auch strenggläubigen Juden ist nicht alles unrein. Vielmehr unterscheiden sie beispielsweise reine und unreine Speisen. Gemeint ist wohl, dass wie bei den rechtgläubigen Christen der Glaube entscheidend ist, nicht die Speise oder irgendetwas anderes. Nun hängen die Irrlehrer und ihre Anhänger einem falschen Glauben an, womit sie „Ungläubige“ und „Befleckte“ sind. Somit ist ihnen, vom „Unglauben“ her gesehen, nichts rein. Zu beachten ist, dass wir es mit der Sichtweise des sich als rechtgläubig verstehenden „Paulus“ auf Andersgläubige zu tun haben. Wie die Andersgläubigen selbst über rein und unrein denken, bleibt offen. Es schimmert durch, dass sie eine den Juden ähnliche Sichtweise bezüglich rein und unrein und den einzuhaltenden Reinheitsgeboten haben. Dies erregt „Paulus“.
Die Begriffe „nous“ und „syneidêsis“ werden nicht weiter erklärt, so dass wir uns ihrer genauen Bedeutung nur annähern können. „Nous“ kann „Gesinnung“ oder „Verstand“ bedeuten. Wenn die „Gesinnung“ oder der „Verstand“ befleckt ist, dann ist es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen oder gar die „Wahrheit“, das Evangelium und die rechte christliche Lehre zu erfassen. Das ganze Denken und die ganze Grundeinstellung ist verkehrt und damit auch das Handeln.
„Syneidêsis“ ist als „Gewissen“ zu verstehen. Wir dürfen aber das befleckte „Gewissen“ nicht so verstehen, dass die Irrlehrer und ihre Anhänger wegen ihres falschen Glaubens Gewissensbisse haben. Aus ihrer Sicht ist ihr Glaube ja richtig und ihr Verhältnis Gott, Jesus Christus und den Mitmenschen gegenüber ungetrübt. Damit gibt es für sie keinen Grund, Gewissensbisse zu haben. Das befleckte „Gewissen“ hat nur insofern etwas mit Gewissenswissen zu tun, als „Paulus“ sagen könnte, dass die Irrlehrer und ihre Anhänger Gewissensbisse haben müssten, weil sie Gott und Jesus Christus gegenüber als Ungläubige und Frevler dastehen und andere Menschen ins Unheil führen. Das ist umso verwerflicher, als sie ja mal rechtgläubige Christen waren und ihnen daher im Grunde das Evangelium und die rechte christliche Lehre, also die „Wahrheit“, bekannt ist. Sie verraten diese jedoch.
Weiterführende Literatur: Laut R. Amici 2009, 445-470 vermeide der Verfasser der Pastoralbriefe den Konflikt mit der Welt und ihren Institutionen. Dem liege eine bestimmte Strategie zugrunde, der es nachzuspüren gelte. Mit diesem Anliegen befasst sich R. Amici mit Texten und Begriffen der Pastoralbriefe, die auf einem rechten Verhältnis zur Welt und Schöpfung bestehen und dieses von den Christen der dritten Generation einfordern. Zu Tit 1,15: Auch hier wende sich der Verfasser der Pastoralbriefe gegen eine Schöpfungsfeindlichkeit. Christen sollten den Kontakt mit der geschaffenen Wirklichkeit gutheißen. Insofern seien die jüdischen Reinheitsgebote mit ihrer Unterscheidung in “rein” und “unrein” für die Christen nicht maßgeblich.
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Beobachtungen: Die Irrlehrer und ihre Anhänger beteuern, Gott zu kennen. Es fällt auf, dass es nicht „… beteuern, Jesus Christus zu kennen“ heißt. Ist daraus zu schließen, dass sich die Irrlehrer und ihre Anhänger nicht als Christen verstehen? Das ist möglich, aber wahrscheinlicher ist, dass sich in der Formulierung die herausragende Bedeutung, die „Paulus“ Gott beimisst, widerspiegelt. Kreuzigung Jesu, Sündenvergebung und Auferstehung von den Toten sind Bestandteil des Heilsplans des „Rettergotts“, Jesus Christus ist Instrument zur Verwirklichung des Heilsplans und „Paulus“ steht in Gottes Dienst (vgl. Tit 1,1-4). Auch mag eine Rolle spielen, dass die Irrlehrer und ihre Anhänger dem Judentum nahestehen und/oder ihre Lehre jüdische Elemente enthält.
Der Beteuerung sind jedoch die Werke entgegengesetzt, mit denen sie Gott nicht bekennen, sondern verleugnen. Die Taten stimmen also nicht mit den Worten überein. Dabei wird nicht konkretisiert, welche Werke gemeint sind. Es geht aber auch gar nicht um Konkretes, sondern „Paulus“ bleibt im Allgemeinen, redet grundsätzlich. Der Glaube der Irrlehrer und ihrer Anhänger entspricht nicht dem Evangelium und der rechten christlichen Lehre, folglich denken und handeln sie falsch. Weil sie die Gemeindeglieder verwirren, vom rechten Glauben abbringen und somit um das Heil bringen, ist das schlimm. Die existenzielle Dramatik spiegelt sich in den drastischen Formulierungen der V. 10-16 wider, außerdem in den keinen Widerspruch und keine Differenzierung duldenden Verallgemeinerungen.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Amici, Roberto; Etero-didascalie e falsi maestri nelle lettere a Timoteo e a Tito, RivBib 56/4 (2008), 455-473
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