Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Titusbrief

Brief des Paulus an Titus

Tit

2,11-15

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Tit 2,11-15



Übersetzung


Tit 2,11-15 : 11 Denn es ist erschienen die heilbringende Gnade (des) Gottes allen Menschen,12 die uns dazu erzieht, uns von der Gottlosigkeit und von den irdischen Begierden loszusagen und besonnen und gerecht und fromm in der jetzigen Weltzeit zu leben, 13 indem wir dabei die selige Hoffnung erwarten und die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus, 14 der sich selbst für uns hingegeben hat, um uns von aller Ungesetzlichkeit zu erlösen und sich selbst ein Volk zu seinem besonderen Eigentum zu reinigen, das eifrig [danach strebt], gute Werke [zu tun]. 15 In diesem Sinne rede und mahne und weise zurecht, mit allem Nachdruck! Niemand soll dich verachten!



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V. 11


Beobachtungen: In 1,10-16 hatte „Paulus“ deutlich gemacht, dass die Irrlehrer zwar beteuern, Gott zu kennen, ihn aber mit den Werken verleugnen. In 2,1-10 legte „Paulus“ dann dar, wie sich christliches Leben mit seinen Werken je nach Alter, Geschlecht und Stand gestaltet. Grundlage allen christlichen Lebens ist die „gesunde Lehre“, die folglich auch die Grundlage aller Rede des „Titus“ sein soll. In 2,11-14 entfaltet „Paulus“ die Theologie von der heilbringenden Gnade Gottes und schreibt dann in V. 15, dass „Titus“ diese seiner Verkündigung und Lehre, seinen Ermahnungen und seinen Zurechtweisungen, also aller Rede, zugrunde legen soll. Dementsprechend soll auch alles christliche Leben im Lichte der heilbringenden Gnade Gottes erfolgen.


„Gnade“ ist etwas Abstraktes, etwas, was man nicht sehen kann. Wie kann also die „Gnade“ erschienen sein? „Gnade“ muss mit einer sichtbaren Person oder einer sichtbaren Sache verbunden sein. Zu denken ist an Jesus, mit dem das Heilsgeschehen verbunden ist. Jesus ist sozusagen die personifizierte Gnade, nicht einfach nur ein Mensch namens Jesus. Jesus bewirkt Rettung bzw. Heil, und zwar auf dem Hintergrund des göttlichen Heilsplans. Auch der göttliche Heilsplan klingt im Begriff „Gnade“ an, denn es ist ja nicht nur von der „Gnade“ die Rede, sondern von der „Gnade Gottes“. Das Heil ist nämlich nicht Verdienst der Menschen und wird auch nicht von Jesus aus eigenem Antrieb gewährt, sondern das Heil wird von Gott gnädig geschenkt.


Die „Gnade Gottes“ ist allen Menschen erschienen und nicht nur einem Teil der Menschen. Natürlich haben Jesus, die „Gnade Gottes“, nicht alle seine Zeitgenossen gesehen; und alle Menschen, die nach Jesu Himmelfahrt gelebt haben und leben, haben ihn auch nicht gesehen, zumindest nicht leibhaftig auf Erden. Aber „erschienen“ ist nicht gleichbedeutend mit „gesehen worden“. „Erschienen“ bedeutet vielmehr „geboren“, allerdings nicht nur im weltlichen Sinn, sondern im geistlichen, das Heil einschließenden Sinn. Es klingt das Heilsgeschehen an, der Inhalt des Evangeliums, das verkündigt wurde und weiter wird. Insofern ist „es ist erschienen“ nicht einfach nur ein historisches Ereignis, sondern ein Ereignis, das alle Menschen gleichermaßen betrifft, egal zu welcher Zeit.

Wenn die „Gnade Gottes“ allen Menschen erschienen ist, heißt das nicht, dass alle Menschen gleichermaßen am Heil teilhaben. Um das Heil zu erlangen, bedarf es des christlichen Glaubens. Und mit dem Glauben ist ein Wandel im Leben gefordert, wie der nachfolgende Vers zeigt.


Weiterführende Literatur: I. M. Blecker 2002, 229-267 untersucht das Wissenskonzept der Pastoralbriefe und geht dabei auf Wissen, wie man sich im Hause Gottes verhalten muss: Ethik, auf Wissen über Grund und Ziel christlichen Lebens in der Kirche: Theologie und schließlich auf Wissen als Kultur ein. Insgesamt könne man in den Pastoralbriefen eine zunehmende Tendenz zur Fixierung, Objektivierung und Normierung von ethischen und theologischen Wissensbeständen beobachten. Das kulturelle Wissen, das die Pastoralbriefe vermittelten, ordne und fundiere nicht nur die soziale Identität und Struktur der Kirche, sondern habe soteriologische Qualität. Die Pastoralbriefe markierten eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Entwicklung der Kultur des Christentums. Der Rückblick auf Paulus als Wissensmittler begründe eine neue kulturelle Identität, sei aber zugleich auch ein Abschluss. Als jüngste Schriften der Paulusbriefsammlung bildeten die Paulusbriefe quasi den dreistimmigen Schlussakkord des neutestamentlichen Paulinismus.


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V. 12


Beobachtungen: Der gefordert Wandel im Verhalten betrifft nicht nur ganz bestimmte Verhaltensweisen, sondern die ganze Existenz des Menschen. Dabei stellt V. 12 zwei verschiedene Existenzen gegenüber, nämlich die nichtchristliche Existenz und die christliche Existenz. Die nichtchristliche Existenz ist von Gottlosigkeit und von irdischen Begierden geprägt. Dabei haben wir die „Gottlosigkeit“ nicht nur auf Nichtchristen zu beziehen, sondern auch auf die Irrlehrer und deren Anhänger. Nichtchristen und Irrlehrer und deren Anhänger sind nämlich gleichermaßen dem Rettergott, Jesus Christus, dem Evangelium und der rechten christlichen Lehre fern. Und die „irdischen Begierden“ dürften nicht nur sexueller Art sein, denn „Paulus“ hat ja noch in 2,10-16 von den verschiedenen Altersgruppen gesprochen. Sexuelle Begierden betreffen in erster Linie die jüngeren Männer und die jüngeren Frauen, auch wenn alte Männer und alte Frauen nicht wegen ihres Alters allen sexuellen Begierden abhold sein müssen. Die jüngeren Männer dürften auch eher die Begierde haben, sich im sportlichen Wettkampf oder im Krieg auszuzeichnen. Beides ist aus Sicht des „Paulus“ nicht unbedingt schlecht, ist aber nicht für das christliche Leben charakteristisch, sofern der Wettkampf und der Kampf nicht geistlich gedeutet werden. Bei den Frauen könnte man als Begierde vermuten, dass sie tratschen und Irrlehren weiterverbreiten wollen. Die Schwierigkeit, die „irdischen Begierden“ zu fassen, zeigt, dass eine genaue Bestimmung wohl müßig ist. „Irdische Begierden“ dürfte allgemein für ein Verhalten stehen, das nicht mit dem Evangelium und der rechten christlichen Lehre und dem geforderten Verhalten in Einklang ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, was „Paulus“ zum Verhalten der verschiedenen Altersgruppen und zum Verhalten der Sklaven geschrieben hat. Wer sich nach Lust und Laune verhält und nicht so, wie es sich dem Evangelium und der rechten christlichen Lehre und außerdem der eigenen Altersgruppe geziemt, folgt den Begierden. Da das geforderte Verhalten stark an den gesellschaftlich anerkannten Normen orientiert ist, ist aus Sicht des „Paulus“ auch Verhalten irdische Begierde, das nicht gesellschaftskonform ist.


„Besonnen sein“ ist die zentrale Forderung in Tit 2,1-10. In V. 12 wird nicht konkretisiert, wann und inwiefern die Christen besonnen sein sollen. Die fehlenden Konkretisierungen weisen darauf hin, dass keine Einschränkungen im Blick sind. Die Besonnenheit soll also das ganze Leben der Christen prägen, sie sollen in allem besonnen sein. Ausdrücklich wird dies von den jüngeren Männern gefordert, die am ehesten zu unbedachtem Verhalten neigen. Da den beiden Geschlechtern (Mann und Frau), den beiden Altersgruppen (alt und jung) und den Sklaven als ein bestimmter Stand in der Gesellschaft nach Ansicht des „Paulus“ ganz bestimmte Rollen zukommen, hat die Besonnenheit eine geschlechts-, alters- und standesspezifische Ausprägung. Wie sie jeweils beschaffen ist, geht aus den V. 1-10 hervor.


„Gerecht“ („dikaiôs“) und „fromm“ („eusebês“) dürften eine sehr ähnliche Bedeutung haben, jeweils im Sinne von „gottgefällig“ zu verstehen sein. Dabei hat „gottgefällig“ aber wohl jeweils eine ganz bestimmte Prägung: „Gerecht“ hat in besonderem Maße Kreuzestod und Auferweckung Jesu von den Toten im Blick, womit Sündenvergebung und ewiges Leben derjenigen verbunden sind, die an das Heilsgeschehen glauben. Gerecht leben bedeutet demnach, im Lichte dieses Heilsgeschehens zu leben. Fromm leben bedeutet, recht zu glauben und recht zu leben, wobei keine Betonung auf dem Heilsgeschehen, auf Sündenvergebung und ewigem Leben liegt.


Das gerechte und fromme Leben setzt das Lossagen von der Gottlosigkeit und von den irdischen Begierden voraus. Gottlosigkeit und irdische Begierden sind für die Heiden typisch, aber „Paulus“ sieht auch bei den Irrlehrern und ihren Anhängern nur Schlechtes (vgl. 1,5-16). Die Tatsache, dass die Ältesten/Aufseher, die Titus auf Kreta einsetzen soll, bestimmte Charaktereigenschaften erfüllen müssen, die – auch wenn wir die Irrlehrer und ihre Anhänger außen vor lassen – nicht alle Christen erfüllen, zeigt, dass christliches Leben als ein Prozess verstanden ist. Formal und symbolisch erfolgt das Lossagen von der Gottlosigkeit und von den irdischen Begierden mit der Taufe, die den Übergang in die christliche Existenz darstellt. „Paulus“ dürfte sich jedoch darüber klar sein, dass nicht alle Christen ihre christliche Existenz wirklich ernst nehmen. Mit der Taufe verschwinden also Gottlosigkeit und irdische Begierden nicht unbedingt, insbesondere dann, wenn sich Irrlehren breit machen. Daher sieht sich „Paulus“ genötigt, zum rechten Glauben und Verhalten zu ermahnen.


Rechter Glaube und rechtes Verhalten sind in der „jetzigen Weltzeit“ gefordert, also im Hier und Jetzt. Es geht also nicht um Idealvorstellungen für eine Endzeit, in der sich alles Übel der jetzigen Welt zu einem paradiesischen Zustand wandelt. Auch geht es nicht um ein engelsgleiches Dasein im paradiesischen Jenseits. Vielmehr geht es „Paulus“ darum, sich in der Gegenwart zu bewähren und das christliche Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Vorstellungen der nichtchristlichen Umwelt zu gestalten, ohne unnötig anzuecken. Der gesellschaftskonforme Charakter der Theologie des Titusbriefes lässt erkennen, dass die heidnische Umwelt nicht einfach nur als gottlos und lasterhaft angesehen wird. Die heidnische Umwelt ist vielmehr der vorgegebene Rahmen, an den man sich anpassen muss, wenn man nicht Hass auf die Christen und Christenverfolgungen schüren will. In diesem Spannungsfeld zwischen Ablehnung des Heidentums und (nötiger?) gesellschaftlicher Anpassung ist der Titusbrief entstanden.


Wie kann die heilbringende Gnade Gottes erziehen? Was bedeutet „erziehen“? Die heilbringende Gnade Gottes erscheint personifiziert, als sei sie eine Lehrerin. Und diese Lehrerin bewirkt, dass der Glaube und das Verhalten nicht unverändert bleiben. Zunächst einmal gibt sie den Anstoß dazu, den Glauben und das Verhalten zu ändern. Damit Menschen einen solchen Anstoß bekommen, bedarf es der Verkündigung des Evangeliums, dessen zentraler Inhalt demnach die heilbringende Gnade Gottes ist. Es reicht aber nicht, den Glauben nur anzunehmen, sondern der Glaube muss reifen. Nur dann kann der Glaube gefestigt einem Rückfall in den heidnischen Glauben oder den Irrlehren widerstehen. Und nur dann kann sich ein Christ wirklich der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden lossagen und besonnen und gerecht und fromm in der jetzigen Weltzeit leben. Christlicher Glaube und christliches Verhalten reifen in einem Prozess, der immer wieder der Verkündigung und der Lehre bedarf. Auch die Lehre hat als wesentlichen Inhalt die heilbringende Gnade Gottes. Nicht die menschliche Lehrerin ist die eigentliche Lehrerin, sondern die heilbringende Gnade Gottes. Und diese ist untrennbar mit Jesus Christus und dessen Kreuzestod und Auferweckung von den Toten verbunden (vgl. den Ersten Clemensbrief 59,3).


Weiterführende Literatur: Im griechischen Original bestehe Tit 2,11-14 laut M. Reiser 1993, 443-449 aus einem einzigen langen Satz. Er handele von der Gnade Gottes, die auf dieser Erde erschienen ist und seither eine pädagogische Tätigkeit ausübt: Sie erziehe uns zum christlichen Leben und bereite uns so auf das endgültige Erscheinen unseres Herrn vor. Dies sei ein ungewöhnlicher Gedanke, der in der Heiligen Schrift nur hier auftauche. Schon deshalb sollten wir diesem Satz mehr Aufmerksamkeit schenken. M. Reiser geht ihn langsam durch und legt dar, wie dieser Grundgedanke mit einigen bemerkenswerten Nebengedanken entfaltet wird. Das Achten auf den griechischen Wortlaut könne uns helfen, die geistlichen Schätze dieser weihnachtlichen Lesung ans Licht zu heben.


Laut W. Eisele 2012, 65-84 wiesen das Gesetz in Gal 3,21-25 und die Gnade in Tit 2,11-14 im Hinblick auf ihre erzieherische Funktion zwei wesentliche Parallelen auf: a) Sie übten ein Wächteramt aus, das nach außen schütze und nach innen zur Sittlichkeit erziehe. b) Ihre erzieherische Aufgabe sei zeitlich begrenzt und ziele in dieser ganzen Zeit bereits auf ihre Erledigung, die beim Gesetz der Glaube und bei der Gnade die künftige Epiphanie Gottes herbeiführe. Gleichzeitig unterschieden sich die Erzieher Gesetz und Gnade in zwei wichtigen Punkten: a) Das Gesetz behalte auch nach der Erledigung seiner pädagogischen Funktion eine gewisse innergeschichtliche Relevanz; es bleibe als Pädagoge, der auf den Glauben ausgerichtet war, und als Schrift, die den Glauben begründet, von Bedeutung. Dagegen ende die Erziehungsfunktion der Gnade erst mit dem Ende der Geschichte, weshalb sie darüber hinaus keine Bedeutung mehr haben könne. b) Wer dem Gesetz als Pädagogen untersteht, könne dessen Erziehung nur passiv an sich geschehen lassen, weshalb diese Art der Erziehung mit dem Kommen des Glaubens definitiv ende. Die Gnade hingegen erziehe und bilde den Menschen sein Leben lang, weil sie ihn auch aktiv daran beteilige.


Die Aufforderung, besonnen, gerecht und fromm zu leben, gelte gemäß B. Cholvy 2016, 533-550 für Christen auch heute noch. Sie befasst sich mit der Verwurzelung und Fortdauer der Aufforderung in einer christologischen Eschatologie als Grundlage für praktische Überlegungen zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen, darunter denen der verschiedenen Lebensalter.


S. Christensen 2016, 161-180 versteht „sôphrôn“ („besonnen“) nicht im Sinne einer Ethik der Anpassung, denn die griechisch-römischen Vorstellungen hinsichtlich des Zwecks und der Quelle der Besonnenheit/Selbstbeherrschung wichen doch stark von denen des Titusbriefes ab. „Besonnen“ sei in Tit 2,1-14 in enger Verbindung mit dem Evangelium und mit der Einheit mit Jesus Christus zu verstehen.


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V. 13


Beobachtungen: Wie können Christen „die Hoffnung“ erwarten? Man kann doch nur hoffen oder etwas in der Hoffnung auf etwas tun! Was soll denn überhaupt die Hoffnung sein? Die Unklarheit und Verwirrung entsteht, wenn wir die folgende Konjunktion „kai“ im Sinne von „und“ verstehen. Bei einer solchen Deutung wird zum einen „die selige Hoffnung“ erwartet, zum anderen die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus. Die Tatsache, dass man eine Hoffnung nicht erwarten kann, legt nahe, dass die Hoffnung genauer definiert wird. Demnach wäre die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus (bei dessen Wiederkunft) die Hoffnung. Die Konjunktion „kai“ ist demnach im Sinne von „das heißt“ zu übersetzen. Die Übersetzung des gesamten V. 13 lautet dann „indem wir die selige Hoffnung erwarten, das heißt die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus“. „Das heißt“ kann durch einen Doppelpunkt ersetzt werden, womit die Übersetzung „indem wir die selige Hoffnung erwarten: die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus“ lautet. Und sobald die Erscheinung eintritt, wird die Hoffnung erfüllt.

„Selige Hoffnung“ ist nicht so zu verstehen, dass die Hoffnung selbst selig ist, sondern so, dass es für die gläubigen Christen Hoffnung auf Seligkeit gibt. „Selig“ bedeutet zunächst einmal, dass es sich nicht um eine vergebliche Hoffnung handelt, also nicht um einen frommen Wunsch ohne realistische Wahrscheinlichkeit der Erfüllung. Vielmehr handelt es sich um eine Hoffnung, die tatsächlich erfüllt wird. Darüber hinaus bedeutet „selig“ aber auch, dass die gläubigen Christen nicht mehr dem irdischen Leid und der irdischen Vergänglichkeit unterworfen sein werden. Vielmehr bekommen sie an der Herrlichkeit Gottes und Jesu Christi und an der Unvergänglichkeit Anteil.

Der Übersetzung „indem wir … erwarten“ liegt das Partizip Präsens „prosdechomenos“ („erwartend“) zugrunde. Anstelle der Übersetzung „indem wir … erwarten“ ist auch die Übersetzung „während wir … erwarten“ möglich. „Indem“ und „während“ sind hier bedeutungsgleich. Um das Missverständnis auszuschließen, dass „indem“ hier „dadurch, dass“ bedeutet, kann auch die Übersetzung „indem wir dabei … erwarten“ gewählt werden.


Der Begriff "doxa" kann mit "Ehre", "Ruhm", "Glanz" oder "Herrlichkeit" übersetzt werden. Alle diese Aspekte sind miteinander verbunden, wie prächtige Gewänder und prächtiger Schmuck von Herrschern zeigen.


Ist Jesus Christus der große Gott und unser Retter? Oder ist Jesus Christus „nur“ unser Retter, dabei vom großen Gott unterschieden? Oder ist Jesus Christus vom großen Gott, der zugleich unser Retter ist, unterschieden? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, schauen wir uns an, wer im Titusbrief als „Retter“ bzw. „unser Retter“ bezeichnet wird. In 1,3; 2,10 und 3,4 wird Gott als „Rettergott“ bezeichnet. Entweder ist er selbst der Retter oder es wird das Heil auf ihn zurückgeführt. In 1,4 und 3,6 wird jedoch Jesus Christus eindeutig als „unser Retter“ bezeichnet. Sollte Jesus Christus in 2,13 tatsächlich als „unser Retter“ bezeichnet sein, dann wäre er zugleich der große Gott, denn „großen Gottes und unseres Retters“ ist mittels eines einzigen bestimmten Artikels („tou“ = „des“) miteinander verbunden. Aber wird Jesus Christus an irgendeiner anderen Stelle des Titusbriefes mit Gott gleichgesetzt, als „Gott“ bezeichnet? Das ist nicht der Fall. Insofern können wir als Ergebnis festhalten, dass Jesu Christus zwar wahrscheinlich „unser Retter“ ist, dabei aber vom „großen Gott“ unterschieden. Dass dennoch ein einziger bestimmter Artikel den „großen Gott“ und „unseren Retter“ als dieselbe „Person“ erscheinen lässt, weist darauf hin, dass sich „unser Retter“ sowohl auf Gott als auch auf Jesus Christus bezieht. Der große Gott ist demnach ein Retter und Jesus Christus ist unser Retter. Der Heilsplan, der die Rettung vorsieht, stammt von Gott, und das Mittel, das den Heilsplan umsetzt, ist Jesus Christus. „Unseren Retters“ kommt also eine Scharnierfunktion zwischen dem „großen Gott“ und Jesus Christus zu. Scharniere finden sich auch an anderen Stellen des Tit, nämlich in 2,6-7 und 2,9. Sie sind also ein für den Tit typisches Stilmittel. Die „Herrlichkeit“ bezieht sich somit sowohl auf den großen Gott als auch auf Jesus Christus. Wenn Jesus Christus erscheint, erscheint nicht eine Person, sondern die Herrlichkeit unseres Retters Jesus Christus und des Rettergottes. Sowohl Gott als auch Jesus Christus werden über das Heil definiert, das sie den Menschen zukommen lassen.


„Groß“ bezieht sich sicherlich nicht auf die Körpergröße Gottes, auch nicht auf eine große Ausdehnung im Weltall. „Groß“ ist vielmehr ein Heilsbegriff, der wohl deutlich machen soll, dass das Heil eine solch große bzw. großartige Sache ist, dass sie den Verstand der Menschen übersteigt. Weil das Heil auf Gottes Heilsplan zurückzuführen ist, wird Gott als „großer Gott“ bezeichnet. „Groß“ kann sich aber auch auf „unseren Retter“ beziehen, der ebenfalls groß wäre. Als Mittel der Umsetzung des Heils ist auch unser Retter Jesus Christus groß. Dieser Bezug ist aber wohl nur zweitrangig.


Weiterführende Literatur: R. F. Collins 2000, 56-72 legt dar, dass der Tit im Vergleich zu den anderen beiden Pastoralbriefen eine besonders ausgeprägte Theologie aufweise: Vor ewigen Zeiten habe Gott ewiges Leben verheißen. Dieser Gott sei der Gott, der nie lügt. Er habe seine Verheißung verwirklicht und seine Güte in drei besonderen Augenblicken zu erkennen gegeben. Der erste Augenblick sei ein Gnadenerweis gewesen, nämlich das Erscheinen des Retters Jesus Christus. Der zweite Augenblick sei die Berufung des Paulus, Diener Gottes und Apostel par excellence, zur Verkündigung des Wortes Gottes der Rettung gewesen. Der dritte Augenblick habe mit der Reinigung des Christen in der Taufe stattgefunden, bei der der Christ neu geboren und durch die Gabe des heiligen Geistes erneuert worden sei. Mit der Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Jesus Christus werde die selige Hoffnung der Christen vollständig verwirklicht.


Laut T. Söding 1999, 149-192 sei das Erscheinen Jesu Christi als Retter aller Menschen das Leitmotiv der Pastoralbriefe. In Gott, dem Vater, habe das christologische Heilsgeschehen seinen Ursprung.


Allgemein zur Frage, ob gemäß biblischen Texten die Wiederkunft Jesu Christi unmittelbar bevorsteht und ob ihr Zeichen vorangehen, siehe W. A. Brindle 2001, 138-151, wobei auf S. 148-149 Tit 2,13 behandelt wird. Ergebnis: In den betrachteten Texten (einschließlich Tit 2,13) fänden sich keine Hinweise auf Zeichen. Die Gläubigen sollten nicht auf Zeichen, sondern auf die Wiederkunft des „Herrn“ vom Himmel warten.


G. D. Fee 2007, 440-448 geht – anders als viele andere Exegeten - nicht davon aus, dass in V. 13 Jesus Christus als „großer Gott“ bezeichnet werde. Er begründet das zum einen damit, dass diese Bezeichnung auf Jesus Christus bezogen sehr ungewöhnlich sei, zum anderen aber auch mit der Stellung der Bezeichnung im gesamten Satz V. 11-14. In V. 11-14 ließen sich zwei verschiedene „Erscheinungen“ Christi ausmachen. Die erste sei die historische „Erscheinung“ (im Sinne von „Manifestation“) von Gottes Gnade, die mit V. 11 zur Sprache komme und mit V. 14 einen Abschluss finde, die zweite sei die zukünftige „Erscheinung“ (im Sinne von „Manifestation“) von Gottes Herrlichkeit, um die es in V. 13 gehe. Auf diese zukünftige, abschließende „Erscheinung“ von Gottes Herrlichkeit, auf die Wiederkunft Christi, sei die Hoffnung der Gläubigen gerichtet. R. M. Bowman Jr. 2008, 733-752 setzt sich eingehend mit der Deutung und Argumentation von G. D. Fee auseinander, hält diese jedoch nicht für schlüssig. „Großer Gott“ beziehe sich vermutlich auf Jesus Christus, diese Möglichkeit dürfe nicht als unwahrscheinlich abgetan werden. Die „Herrlichkeit“ bestimme die „Erscheinung“ näher, sei keine Bezeichnung für Jesus Christus. In den Pastoralbriefen sei stets, wenn von „Erscheinung“ („epiphaneia“) die Rede sei, von der Erscheinung Christi die Rede (vgl. 1 Tim 6,14; 2 Tim 1,10; 4,1.8), verwandte Verbformen bezeichneten dagegen die Manifestation der Segnungen Gottes. Nirgendwo bezeichne Paulus (oder ein anderer ntl. Autor) Jesus Christus als die „Herrlichkeit Gottes“, aber Paulus bezeichne Jesus Christus als „unseren Retter“ (vgl. Tit 1,4; 3,6 u. a.), wozu das rettende Handeln Jesu Christi, wie es in Tit 2,14 zur Sprache komme, passe.

Gemäß M. J. Harris 1980, 262-277 sei wahrscheinlich, dass Jesus Christus in 2,13 als „unser großer Gott und Retter“ bezeichnet wird. Selbst wenn „der große Gott“ Gott Vater und nicht Jesus Christus bezeichne, sei der Vers dennoch im Sinne der Göttlichkeit Jesu Christi zu verstehen, denn erstens seien „Gott“ und „unser Retter Jesus Christus“ mittels eines einzigen bestimmten Artikels miteinander verbunden, zweitens handele es sich bei der Herrlichkeit sowohl um diejenige Gottes als auch um diejenige Jesu Christi und drittens beziehe sich die Formulierung „unser Retter“ mal auf Gott Vater (vgl. 1,3; 2,10; 3,4), mal auf den Sohn Jesus Christus (vgl. 1,4; 2,13; 3,6).


J. C. Edwards 2011, 141-147 legt dar, dass derselbe Verfasser von Tit 2,11-14 und 1 Tim 2,1-7 in beiden Texten die universale Rettung behaupte, auf dieselbe Weise zu gottgefälligem Leben aufrufe, in derselben Weise von Jes 42,6-7; 49,6-8 beeinflusst sei und darüber hinaus dieselbe Mk 10,45 ähnelnde Tradition benutze, mit demselben Bezug auf „Gott“ plus „Jesus Christus“ oder „Christus Jesus“ und außerdem mit derselben Christologie, die Gott und Jesus Christus als zwei verschiedene Personen ansehe. Daher sei es nicht zulässig, Tit 2,13 mit „The glorious appearing of our great God and Saviour, Jesus Christ“ zu übersetzen. Werde Tit 2,13 mit „The appearance of the glory of our great God and saviour, Jesus Christ“ übersetzt – wohl die von J. C. Edwards bevorzugte Übersetzung -, dann werde Jesus Christus eng mit der „Herrlichkeit Gottes“ („glory of God“) verbunden, und damit auch die Epiphanie (vgl. Tit 3,4). M. J. Harris 2011, 149-150 setzt sich kritisch mit dem Übersetzungsvorschlag auseinander. Zwar sprächen verschiedene Argumente für den ungewöhnlichen Vorschlag, jedoch bringe er verschiedene Schwierigkeiten mit sich. Zu diesen gehöre auch, dass nirgendwo im NT der Titel „Herrlichkeit Gottes“ ausdrücklich auf Jesus Christus bezogen sei. Dass der ungewöhnliche Übersetzungsvorschlag richtig ist, erscheine schon angesichts der Tatsache, dass nahezu alle Grammatiker, Lexikographen und die meisten Kommentatoren und darüber hinaus auch modernen Bibelübersetzungen die übliche Übersetzung unterstützen, unwahrscheinlich.


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V. 14


Beobachtungen: In V. 14 wird dargelegt, inwiefern Jesus Christus „unser Retter“ ist: Entscheidend ist, dass sich Jesus Christus für „uns“ – gemeint sind wohl alle Menschen (vgl. V. 11), speziell aber die Christen - hingegeben hat. Mit dieser Formulierung wird sicherlich auf den stellvertretenden Kreuzestod Jesu für die Menschen angespielt. Halten wir also fest, dass der Kreuzestod Jesu das entscheidende Heilsereignis ist.


Dies ist geschehen, um uns von aller Ungesetzlichkeit (anomia) zu erlösen. Doch was ist mit „Ungesetzlichkeit“ gemeint? Dass wir von „Ungesetzlichkeit“ erlöst werden wollen, erstaunt insofern, weil im NT vielfach die Tora (= Weisung) der Juden als Gesetz verstanden und auch als „Gesetz“ bezeichnet wird. Wenn „Gesetz“ auch in V. 14 so zu verstehen ist, dann ist ausgesagt, dass die Menschen sich nicht an die Tora halten, dies aber tun sollen. Damit sie dies tun, ist Jesus am Kreuz gestorben. Diese Deutung kollidiert aber damit, dass der Titusbrief ganz offensichtlich den Juden gegenüber eine kritische Sicht einnimmt. So kritisiert er in 1,14 „jüdische Mythen“ und „Gebote von Menschen“. Bei den „Geboten“ können jüdische Gebote gemeint sein, aber auch andere Gebote. Sie sind von Menschen ersonnen und haben mit der „Wahrheit“, der „gesunden Lehre“, wie sie der Titusbrief propagiert, nichts zu tun. Auch wenn im Tit an keiner Stelle das „Gesetz“ ausdrücklich abgelehnt wird, ist der kritische Blick auf das Judentum doch offensichtlich. Insofern können wir ausschließen, dass der Tit fordert, dass sich alle Menschen an die Tora, das jüdische Religionsgesetz, halten sollen. Doch welches „Gesetz“ist dann im Blick? Die Deutung des Begriffs wird dadurch erschwert, dass er sich in den Pastoralbriefen nur an dieser Stelle findet. Auf Vorkommen in anderen Schriften des NT und in der Septuaginta können wir nicht ohne weiteres zurückgreifen, weil die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Begriff dort eine andere Bedeutung hat. Aufgrund der Ähnlichkeit der Theologie der Pastoralbriefe lässt sich aus diesen am ehesten die Bedeutung erschließen. Wenn in den Pastoralbriefen auch sonst nirgends von „Ungesetzlichkeit“ („anomia“) die Rede ist, so doch in 1 Tim 1,9 von „Gesetzlosen“ („anomoi“). Die „Gesetzlosen“ werden zu den Personen gezählt, die ein unmoralisches Verhalten an den Tag legen, wobei nicht genauer konkretisiert wird, welches unmoralische Verhalten als „gesetzlos“ zu verstehen ist. In 1 Tim 1,8-11 ist darüber hinaus vom „Gesetz“ („nomos“) die Rede. Zuvor (1,3-7) hat „Paulus“ die Irrlehrer als Menschen dargestellt, die eine abstruse Auslegung des „Gesetzes“ betreiben. Mit dem „Gesetz“ kann das jüdische Religionsgesetz, die Tora, gemeint sein, aber auch eine Art göttlichen Gesetzes. In 1 Tim 1,8-11 macht „Paulus“ nun deutlich, dass das „Gesetz“ gut ist – vorausgesetzt, es wird seinem Sinn gemäß angewendet/gebraucht. Aus der positiven Bewertung des „Gesetzes“ geht hervor, dass die Fabeln und die endlosen Geschlechtsregister (vgl. 1,4) nicht Bestandteil des „Gesetzes“ sind, denn sie werden von „Paulus“ negativ bewertet. Die Fabeln und die endlosen Geschlechtsregister können nur für die Auslegung des „Gesetzes“ herangezogen worden sein, was „Paulus“ für abstrus hält. Wenn wir nun annehmen, dass im Ersten Timotheusbrief „Gesetz“ etwas Ähnliches wie im Titusbrief bezeichnet, dann können wir festhalten, dass das „Gesetz“ an sich nicht negativ ist und sowohl die Tora als auch ein göttliches Gesetz bezeichnen kann. Als negativ werden nur die Fabeln und die endlosen Geschlechtsregister bewertet, die für die Auslegung des „Gesetzes“ herangezogen wurden (vgl. Tit 1,14). Wenn wir berücksichtigen, dass das Judentum und Israel im Tit so gut wie keine Rolle spielen, zumindest keine positive, dann können wir davon ausgehen, dass die „Ungesetzlichkeit“ nicht fehlende Befolgung der Bestimmungen der Tora meint, sondern unmoralisches Verhalten, Sündhaftigkeit. Aus der Sündhaftigkeit hat uns Jesus durch seinen Kreuzestod für unsere Sünden erlöst. Nun hat die Gesetzlosigkeit ein Ende gefunden und ist – so ist anzunehmen – durch ein „Gesetz“ ersetzt worden. Wäre das nicht der Fall, wäre nicht klar, nach welcher Richtschnur die Menschen nun leben sollen. Zunächst einmal ist ganz offensichtlich, dass der stellvertretende Kreuzestod geglaubt werden soll. Und mit dem Glauben ist das neue „Gesetz“ verbunden, das eng mit dem stellvertretenden Kreuzestod als zentralem Inhalt des Evangeliums zusammenhängt. Das neue „Gesetz“ muss eine Lehre im Blick haben, denn sonst wäre nicht klar, was aus dem stellvertretenden Kreuzestod folgt. Diese Lehre muss vom Evangelium ausgehen und von ihm aus eine Theologie und Verhaltensregeln entwickeln. Theologie und Verhaltensregeln richten sich im Tit nicht nach der Tora, sondern nach der „gesunden Lehre“ (vgl. Tit 1,9; 2,1). Damit ist wohl die am Evangelium und somit auch an der paulinischen Theologie ausgerichtete rechte Lehre im Sinne eines Dogmas gemeint. Da der Verfasser des Tit wohl nicht der Apostel Paulus ist, sondern ein „Paulusschüler“ nachpaulinischer Zeit, sind die Theologie und Lehre nicht unbedingt paulinisch, sondern „paulinisch“. Es handelt sich also vermutlich um eine spätere Deutung der paulinischen Lehre, die als paulinisch ausgegeben wird. „Gesetzlosigkeit“ ist demnach vermutlich die fehlende Befolgung dieser Deutung der paulinischen Lehre.


Die Selbsthingabe Jesu Christi war kein Selbstzweck, sondern zielt auf die Erlösung der Menschen von Ungesetzlichkeit und auf die Reinigung der Menschen, so dass sie ein Volk bilden, das Jesu Christi besonderes Eigentum ist. Bei den Formulierungen fällt die Betonung der Aktivität Jesu Christi auf: Er hat sich selbst für uns hingegeben, erlöst uns von aller Ungesetzlichkeit und reinigt uns zu seinem besonderen Eigentum. Rettung ist also als ein aktives Geschehen seitens Jesu Christi (und Gottes) gedacht.


Bemerkenswert ist, dass „Paulus“ zwar von einem „Volk zu Jesu Christi besonderem Eigentum“ spricht, aber mit keinem Wort auf das Gottesvolk Israel eingeht. Damit stellt der Titusbrief einen frappierenden Kontrast zum Römerbrief dar, in dem (in 9-11) Paulus in aller Ausführlichkeit darauf eingeht, inwiefern auch das Volk Israel, das sich zu einem großen Teil dem Glauben an Jesus als Messias (= Christus) verweigert, von Gott nicht verstoßen ist. Dieser nicht zu übersehende Kontrast lässt erkennen, dass der Verfasser des Tit mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der Apostel Paulus ist.

Dass der Verfasser des Tit mit keinem Wort auf das Gottesvolk Israel eingeht, lässt auf kritische Distanz dem Judentum gegenüber schließen. Dass er das Gottesvolk Israel aber nicht ausdrücklich kritisiert, weist darauf hin, dass er dem Judentum gegenüber nicht grundsätzlich negativ eingestellt ist. Das Judentum spielt im Tit keine nennenswerte Rolle, weil es nicht um eine Auseinandersetzung mit den Juden geht, sondern um eine innerchristliche Auseinandersetzung mit Irrlehrern. Die Irrlehrer ziehen „jüdische Fabeln“ und „Gebote von Menschen“ heran (vgl. 1,14), statt sich an die „gesunde Lehre“ zu halten, das ist das Problem. Nicht das Volk Israel bzw. Judentum ist schlecht, sondern der abstruse Gedanke, mit „jüdischen Fabeln“ und „Geboten von Menschen“ Heil bewirken zu können.

Das Adjektiv „periousios“ ist äußerst selten und kommt im NT nur hier vor. Es bedeutet „auserwählt“, „besonders“ oder „ein besonderes Eigentum seiend“. In der Septuaginta (vgl. Ex 19,5LXX; Dtn 7,6; 14,2; 26,18LXX) drückt es aus, dass das Volk Israel ein besonderes Volk ist, von Gott auserwählt und sein besonderes Eigentum. Ähnlich der Gedanke in Tit 2,14, nur dass es hier nicht um das Gottesvolk Israel geht, sondern um das Volk Jesu Christi.


Ungesetzlichkeit ist als Befleckung gedacht. Diese Befleckung passt so gar nicht zur Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus. Die Herrlichkeit bezieht sich nämlich auch auf die Unbeflecktheit, auf das völlig unbeeinträchtigte Strahlen. Dieses Strahlen zeigt Reinheit und Göttlichkeit an. Wenn also im Hinblick auf die Christen von Reinheit und Heiligkeit die Rede ist, dann ist die Nähe der Christen zu Gott und Jesus Christus im Blick. Es ist der Gedanke vorausgesetzt, dass die Verehrenden dem Verehrten ähneln müssen, um sich ihm überhaupt nähern zu dürfen. Dabei fällt auf, dass sich die Christen nicht selbst reinigen, sondern von Jesus Christus durch dessen stellvertretenden Kreuzestod gereinigt wurden.


„Reinigung“ bezieht sich vermutlich auf die Vergebung der Sünden. Die durch die Ungesetzlichkeit entstandenen Sünden, die zur moralischen Befleckung geführt haben, sind vergeben worden und so sind diejenigen, die daran glauben, nun gereinigt und haben eine „weiße Weste“. Damit dürfen sie aber nicht mehr so leben wie bisher, sondern müssen sich an die „gesunde Lehre“ halten und „gute Werke“ tun. Was für „gute Werke“ im Blick sind, wird nicht konkretisiert. Wir können aber mit Sicherheit sagen, dass die „guten Werke“ dem Leben gemäß der „gesunden Lehre“ entsprechen.


Weiterführende Literatur: Mit dem Gebrauch des AT in den Pastoralbriefen befasst sich A. T. Hanson 1981, 203-219, der in Tit 2,14 einen Widerhall von Ps 130,8 (= 129,8LXX) und Ex 19,5; Dtn 4,20; 7,6; 14,2 vermutet.


Laut J. C. Edwards 2009, 264-266 seien sich die Exegeten weitgehend einig, dass sowohl 1 Tim 2,6 als auch Tit 2,14 von einer Mk 10,45 ähnelnden Version des Lösegeld-Logions beeinflusst seien. J. C. Edwards geht der seiner Meinung nach vernachlässigten Frage nach, wie 1 Tim 2,6 und Tit 2,14 das Lösegeld-Logion im Lichte von Jes 42,6-7 und 49,6-8 lesen. Ergebnis: Im Lichte der beiden Jesaja-Texte ergäben die beiden hina-Sätze (= dass/damit-Sätze) in Tit 2,14 (und Barn 14,6) Sinn. Auch ließe sich der Gedanke des Bundesmittlers, verbunden mit einer universalen Perspektive, erklären.


B. J. Lappenga 2013, 704-718 legt dar, dass „zêlôtês“ („eifrig / Eiferer“) in Tit 2,14 als eine Art Titel oder Symbol gebraucht werde, um die Identität der Christen paulinischer Prägung von der Identität der dem Judentum nahestehenden Irrlehrer und ihrer Anhänger zu unterscheiden. Während die Irrlehrer und ihre Anhänger für das jüdische Religionsgesetz eiferten, seien die Christen paulinischer Prägung eifrig bestrebt, gute Werke zu tun.


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V. 15


Beobachtungen: Wörtlich ist der Anfang von V. 15 mit „Dies („tauta“) rede und mahne und weise zurecht, mit allem Nachdruck! ...“ zu übersetzen. Die wörtliche Übersetzung besagt aber genaugenommen, dass „dies“ ermahnt und zurechtgewiesen werden soll. „Dies“ ist aber den Inhalt von 2,11-14, was keinen Sinn ergibt. Tatsächlich ist es so, dass Christen, die von der „gesunden Lehre“ abweichen, ermahnt und zurechtgewiesen werden sollen. 2,11-14 soll die theologische Grundlage der Ermahnung und Zurechtweisung und auch ganz grundsätzlich der Verkündigung und Lehre (= Rede) sein. Wir haben es also in 2,11-14 mit ganz entscheidenden Glaubensaussagen zu tun, die bei der Auslegung des gesamten Titusbriefes zu bedenken sind. Um das Missverständnis zu vermeiden, dass „dies“ ermahnt und zurechtgewiesen werden solle, empfiehlt sich die Übersetzung „In diesem Sinne rede und mahne und weise zurecht, mit allem Nachdruck! …“. Gemeint ist: Diese (in 2,11-14 entfaltete) Theologie lege deiner Verkündigung und Lehre, deinen Ermahnungen und deinen Zurechtweisungen zugrunde!


Das ausdrückliche „Niemand soll dich verachten!“ unterstreicht die Autorität, die „Paulus“ seiner Theologie und Lehre und damit auch dem „Titus“, der seiner kirchlichen Arbeit die paulinische bzw. „paulinische“ Theologie und Lehre zugrunde legen soll, beimisst. „Paulus“ ist sich bewusst, dass „Titus“ bei seinem Reden, Ermahnen und Zurechtweisen auch auf Ablehnung stoßen wird. Deshalb macht er deutlich, dass die paulinische bzw. „paulinische“ Theologie und Lehre maßgeblich ist und nicht irgendeine andere, als christlich ausgegebene Theologie und Lehre. „Niemand soll dich verachten!“ kann auch dahingehend verstanden werden, dass „Titus“ noch recht jung ist und ihm deswegen nicht die gebührende Achtung entgegengebracht werden könnte. Allerdings gibt es im gesamten Titusbrief keinen Hinweis darauf, dass „Titus“ wirklich jung ist. Tit 2,7 könnte zwar durch seinen direkten Anschluss an die Ausführungen zu den „jüngeren Männern“ so verstanden werden, allerdings ist 2,7 wohl eher altersunabhängig zu verstehen. Auch dass in 1,4 „Titus“ als „Kind hinsichtlich [des] gemeinsamen Glaubens“ bezeichnet wird, ist nicht unbedingt als Hinweis auf ein vergleichsweise junges Alter zu verstehen. Es geht nämlich um ein geistliches, im gemeinsamen Glauben gründendes Verwandtschaftsverhältnis. „Titus“ kann jünger als „Paulus“ sein, muss es jedoch nicht. Die Zahl der Lebensjahre spielt hinsichtlich des Glaubens keine besondere Rolle.


Weiterführende Literatur: Gemäß E. R. Wendland 1999, 334-351 handele es sich bei 2,15 um einen Schlüsselvers des Titusbriefes, an dem sich dessen Gestaltung ausrichte. Niemand solle Titus verachten, weil dadurch die Verkündigung des Evangeliums und auch das aufgetragene Lehren, Ermutigen und Zurechtweisen in Verruf komme.



Literaturübersicht


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Lappenga, B. J.; "Zealots for Good Works": The Polemical Repercussions of the Word zêlôtês in Titus 2:14, CBQ 75/4 (2013), 704-718

Reiser, Marius; Erziehung durch Gnade. Eine Betrachtung zu Tit 2,11-14, EuA 69/6 (1993), 443-449

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Wendland, Ernst R.; "Let no one disregard You!" (Titus 2.15): Church Discipline and the Construction of Discourse in a Personal "Pastoral" Epistle, in S. E. Porter et al. [eds.], Discourse Analysis and the New Testament (JSNT.S 170), Sheffield 1999, 334-351

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