2 Tim 1,15-18
Übersetzung
2 Tim 1,15-18 : 15 Das weißt du, dass sich alle in Asien von mir abgewandt haben, unter ihnen Phygelus und Hermogenes. 16 Der Herr erweise dem Haus des Onesiphorus Barmherzigkeit, denn es hat mich oft erquickt und sich meiner Ketten nicht geschämt. 17 Im Gegenteil: Als es nach Rom gekommen war, suchte es mich eifrig und fand [mich] (auch). 18 Der Herr möge es Barmherzigkeit finden lassen beim Herrn an jenem Tage. Und welche Dienste es in Ephesus geleistet hat, weißt du am besten.
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Beobachtungen: In 2 Tim 1,6-14 hat „Paulus“ den „Timotheus“ ermahnt, den „Herrn“ und ihn selbst, den Gefangenen, furchtlos zu bezeugen und mit für das Evangelium zu leiden. Die Ermahnung zeigt, dass das furchtlose Zeugnis und das Mitleiden keineswegs selbstverständlich sind. In den V. 15-18 macht „Paulus“ deutlich, dass die gewöhnliche Reaktion die Scham ist. Gefangenschaft und Leid erscheinen als etwas Schwaches, also als etwas, was in der von dem Ideal der Stärke und von dem Streben nach Ehre und Ruhm geprägten römischen Welt verpönt ist. Wer sich des von Leid geprägten und daher schwach erscheinenden christlichen Glaubens und des gefangenen und daher schwach erscheinenden „Paulus“ schämt, steht in einer Situation der Bedrängnis nicht zu ihm, sondern wendet sich ab. Diese Abwendung muss nicht unbedingt Abfall vom christlichen Glauben sein, sondern kann sich auch in einem zaghaften Bekenntnis zum christlichen Glauben und zur paulinischen Theologie und Lehre zeigen, oder auch im Verschweigen des christlichen Glaubens und der paulinischen Theologie und Lehre. Genau diese Furcht und Zaghaftigkeit soll „Timotheus“, der wohl die kirchlichen Amtsträger (speziell die Aufseher/Bischöfe) repräsentiert, nicht an den Tag legen. Er soll sich „Paulus“ als Vorbild nehmen, der als Herold, Apostel und Lehrer leidet und sich seines christlichen Glaubens nicht schämt. Dieses Verhalten ist nicht an irdischen Idealen ausgerichtet, sondern am Heil, das der christliche Glaube gemäß der „paulinischen“ (oder: paulinischen) Theologie und Lehre verheißt.
Mit „Asien“ ist vermutlich die römische Provinz „Asia minor“ in der heutigen Westtürkei gemeint, nicht der Kontinent. Dass das Verhalten der Christen in der Provinz Asien in den Blick kommt, macht deutlich, dass „Paulus“ und „Timotheus“ zu dieser Provinz (samt ihrer Hauptstadt Ephesus) eine besondere Beziehung haben. In der Provinz Asien hat Paulus nicht nur erfolgreich missioniert, sondern auch wegen seines missionarischen Wirkens gelitten (vgl. insbesondere 1 Kor 15,32; 2 Kor 1,8). Von daher die Verbindung von Mission und Leid. Als frühchristliches Zentrum des Christentums war die Provinz Asien mit ihrer Hauptstadt hinsichtlich der Gemeindeleitung von besonderem Interesse, gerade auch in Anbetracht der Irrlehren und des antichristlichen heidnischen Umfeldes. Insofern waren Gemeindeleitung und Leid eng verbunden. Und es wird auch verständlich, warum der 1 Tim voraussetzt, dass sich „Timotheus“, der Repräsentant kirchlicher Amtsinhaber (speziell der Bischöfe), in Ephesus aufhält (vgl. 1,3).
„Alle in Asien“ ist sicherlich nicht im Wortsinn zu verstehen, als hätte „Paulus“ in der Provinz Asien niemanden mehr, auf den er sich verlassen kann. Erstens ist der treue Onesiphorus (vgl. V. 16) vermutlich aus der Provinz Asien, zweitens vermutlich auch Tychikus, den „Paulus“ nach Ephesus gesandt hat (vgl. 2 Tim 4,12; zur Herkunft siehe Apg 20,4, wobei der dort genannte Tychikus nicht zwingend mit dem in 2 Tim 4,12 erwähnten identisch sein muss). „Alle“ dürfte im Sinne eines betonten „Viele“ zu verstehen sein.
Phygelus und Hermogenes tauchen im NT nur hier auf. Weshalb sie namentlich erwähnt werden, lässt sich nicht erschließen. Ist eine besondere Beziehung des „Paulus“ und/oder „Timotheus“ zu ihnen der Grund? Oder handelt es sich um besonders bekannte oder erwähnenswerte Persönlichkeiten? Oder spielt „Paulus“ auf die Bedeutung von deren Namen an? Phygelus, der „Flüchtling“, flüchtet demnach auch vor dem Glaubenszeugnis. Und „Hermogenes“, der „geborene Redner“, mag zwar reden können, kann sich aber dennoch nicht zum Glaubenszeugnis durchringen.
Weiterführende Literatur: K. Löning 2008, 131-150 befasst sich mit Paulus als soteriologischer Schlüsselfigur in den Pastoralbriefen. Zu 2 Tim 1,3-18: Als Autor des als Freundschaftsbrief stilisierten 2 Tim formuliere Paulus sein Vermächtnis als Philosoph. Hier gehe es nicht um die Organisation der Gemeinden als Wissensträger, sondern um den Glauben als das geistige Erbe des Paulus. Dieses für die Pastoralbriefe wesentliche Anliegen werde im Proömium programmatisch entwickelt.
Laut J. Luttenberger 2012, 304-308 zeige sich ein wesentlicher Unterschied zwischen 1 Tim 1,20 und 2 Tim 1,5.15-18. In 1 Tim 1,20 lasse sich das für eine persönliche Notiz als literarischem Stilmittel übliche Verfahren aufzeigen, indem aus Quellen Bekanntes (vgl. 1 Kor 5,5) bei der Durchführung der literarischen Pseudepigraphie im inhaltlichen Interesse des pseudepigraphischen Briefes aufgenommen und dann mit frei erfundenen Details (z. B. den Namen) ausgeschmückt worden sei. Für 2 Tim 1,5.15-18 sei ein Quellenbezug nicht in gleicher Weise zu verifizieren. Die Angaben in den Texten selbst wären somit die frei erfundenen Details (so die Namen, die Großmutter sowie Onesiphorus und sein Wirken in Ephesus bzw. sein Besuch in Rom), ohne dass eine für den Inhalt erkennbare Aussageabsicht wie in 1 Tim 1,20 deutlich wäre. Die uneinheitliche Funktion bzw. Verwendung der Namen ist gemäß J. Luttenberger einer der Gründe, weshalb er die Theorie, wonach die Pastoralbriefe ein Corpus seien, ablehnt. Der 1 Tim erfülle die Kriterien antiker literarischer Pseudepigraphie, wogegen 2 Tim und Tit als bewusste Fälschungen anzusehen seien. Der 1 Tim nehme somit unter den Pastoralbriefen eine Sonderstellung ein.
Mit einem koptischen Fragment des Abschnittes 2 Tim 1,11-2,2 befasst sich R. Stewart 1982, 7-10, der insbesondere auf 1,11-18 eingeht.
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Beobachtungen: Es ist unklar, wer der „Herr“ ist. In 2 Tim 2,1 wird ausdrücklich Jesus Christus als „unser Herr“ bezeichnet, weshalb zunächst anzunehmen ist, dass Jesus Christus der „Herr“ ist. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass hier Gott als „Herr“ bezeichnet wird, denn in V. 18 scheint auch Gott als „Herr“ bezeichnet zu werden. „Paulus“ scheint nicht an einer deutlichen Unterscheidung zwischen Jesus Christus und Gott gelegen zu sein. Es handelt sich zwar eindeutig um zwei „Personen“, jedoch werden beide als „Herr“ betrachtet. Dabei ist unklar, ob der Hinzufügung des bestimmten Artikels „der“ Bedeutung beizumessen ist. So ist möglich, dass Jesus Christus „der Herr“ ist und Gott „Herr“ – oder umgekehrt.
Der Titel „Herr“ gibt ein Herrschaftsverhältnis an: Der „Herr“ herrscht über seine Diener/Sklaven, die ihm bedingungslos zu dienen haben. Im Römischen Reich galt der Sklave als Sache. Der „Herr“ konnte also am Sklaven Willkür walten lassen. Allerdings erscheint Jesus Christus (oder: Gott) nicht als ein willkürlicher „Herr“, sondern vielmehr als einer, der seinen Sklaven für ihren Dienst Heil zukommen lässt. Der Sklave/Diener Jesu Christi (oder: Gottes) gehört also zu den sozial privilegierten Sklaven/Dienern. Der Aspekt der Gegenseitigkeit, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist, spielt eine entscheidende Rolle: Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten) Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi, dem sie untergeben sind und dienen. Im NT ist „Herr“ ein religiöser Hoheitstitel für Gott und dann auch Jesus Christus. Im heidnischen Umfeld kommt er heidnischen Göttern und schließlich insbesondere dem Kaiser zu. Die unterschiedliche Verwendung macht eine Diskrepanz bezüglich der Frage deutlich, wem Verehrung zuteil werden soll.
Mit dem „Haus“ ist hier nicht ein Gebäude gemeint, sondern eine Wohn- und Lebensgemeinschaft. Dieser gehören nicht nur die Familienangehörigen des Familienoberhauptes an, sondern auch die Sklaven.
Es bleibt offen, was mit „Barmherzigkeit erweisen“ gemeint ist. Die Offenheit lässt annehmen, dass hier ganz allgemein „Gutes tun“ gemeint ist. Der „Herr“ soll also bewirken, dass es dem „Haus“ des Onesiphorus gut geht
Die Grundbedeutung des altgriechischen Verbs „anapsychein“, das im NT nur hier vorkommt, ist „(durch einen Lufthauch) kühlen“, „erfrischen“ oder „erquicken“. Es kann sich auf jede Art leiblicher oder seelischer Heilung, Erfrischung oder Erholung beziehen. In der Septuaginta wird das Verb durchweg intransitiv im Sinne von „sich erholen“ verwendet. Hier liegt dagegen eine transitive Verwendung vor: jemand ist erquickt worden, nämlich „Paulus“. Onesiphorus – interessanterweise bedeutet der Name „Nutzbringender“ – kann also eine Wunde gekühlt bzw. geheilt, „Paulus“ mit Nahrungsmitteln oder Getränken versorgt, seelischen Beistand geleistet oder auf andere Weise zur körperlichen und/oder seelischen Erquickung beigetragen haben. Nicht nur die Art der „Erquickung“ ist unklar, sondern auch der Ort. Wurde „Paulus“ im Gefängnis erquickt? Oder im Haus bzw. „Haus“ des Onesiphorus? Oder an einem anderen Ort? Und schließlich ist noch auf eine weitere Unklarheit hinzuweisen, die auch im Hinblick auf die V. 17-18 von Bedeutung ist: Ist es Onesiphorus allein, der „Paulus“ „erquickt“ hat, oder ist es das gesamte „Haus“ des Onesiphorus? Wenn der „Herr“ dem „Haus“ des Onesiphorus – und eben nicht nur dem Onesiphorus - Barmherzigkeit erweisen soll, dann ist anzunehmen, dass das ganze „Haus“ „Paulus“ erquickt hat. Man kann aber auch argumentieren, dass Onesiphorus das Oberhaupt des „Hauses“ ist und die Barmherzigkeit somit nicht nur ihm, sondern seinem ganzen „Haus“ erwiesen werden soll.
Eine weitere Frage ist, ob Onesiphorus noch lebt oder bereits verstorben ist. Dass vom „Haus des Onesiphorus“ und nicht von „Onesiphorus und seinem Haus“ die Rede ist, mag darauf hinweisen, dass er bereits verstorben ist. Er wäre dann in der Formulierung „‘Haus’ des Onesiphorus“ nicht eingeschlossen. Gemeint wären nur seine Familie und die der Hausgemeinschaft zugehörigen Sklaven. Möglich ist aber auch die Deutung, dass das „Haus“ des Onesiphorus das Familienoberhaupt Onesiphorus unterstützt hat und daher genannt wird. „Haus des Onesiphorus“ wäre dann gleichbedeutend mit „Onesiphorus und sein Haus“.
Weiterführende Literatur: Zur Schmach und Pein der Gefangenschaft siehe G. S. MaGee 2008, 338-353. Das Evangelium habe die Pein und Einsamkeit des Paulus während seiner Gefangenschaft zusammen mit niedrigen Verbrechern an einem entlegenen Ort nicht lindern können. Onesiphorus habe sich der Ketten des Paulus nicht geschämt und stelle so für Timotheus ein Beispiel dar. Onesiphorus habe sich wohl Tag für Tag um das Wohlergehen und um die Gesundheit des Paulus gekümmert.
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Beobachtungen: Ist die Formulierung „genomenos en Rhômê“ mit „als es/er nach Rom gekommen war“ oder mit „als/nachdem es/er in Rom gewesen war“ zu übersetzen? Für erstere Übersetzung spricht, dass 2 Tim als testamentarische Mahnrede des Paulus am Ende seines Lebens zu verorten ist. Gemäß Apg 28,30-31 war Paulus am Ende seines Lebens in Rom in Gefangenschaft. Da in V. 16 von den „Ketten“ des „Paulus“ die Rede war, ist auch in V. 17 von einer Gefangenschaft des „Paulus“ auszugehen. Die Übersetzung „nach“ würde jedoch im Altgriechischen eher die Präposition „eis“ erwarten lassen. „En“ bedeutet eher „in“. Die Übersetzung „als/nachdem es/er in Rom gewesen war“ würde jedoch davon ausgehen, dass Paulus nicht in Rom gefangen war, als er von Onesiphorus bzw. von dem „Haus“ des Onesiphorus „gefunden“ wurde. Aber wo soll er sonst gefangen gewesen sein? Ephesus kommt nicht infrage, weil Paulus ganz sicher nicht in der Nähe des Timotheus gefangen war. Es wäre also an einen anderen Ort zu denken, vielleicht Cäsarea (vgl. Apg 25,4) oder Philippi (vgl. Apg 16,23-40). Am ehesten ist noch an Cäsarea zu denken, jedoch ist die am Ende des 2 Tim thematisierte Einsamkeit des Paulus schwerlich mit Cäsarea in Einklang zu bringen (vgl. die Beobachtungen zu 2 Tim 4,16). Auch würde sich die Frage stellen, weshalb erwähnt wird, dass Onesiphorus bzw. sein „Haus“ in Rom war. Die Erwähnung ist nur dann relevant, wenn Paulus in Rom gefangen war und dort „gefunden“ wurde. Insofern ist der Übersetzung „als es/er nach Rom gekommen war“ der Vorzug zu geben. Wir haben es also vermutlich mit einem der seltenen Fälle zu tun, in denen „en“ gleichbedeutend mit „eis“ ist und „nach“ bedeutet.
Ist nur Onesiphorus nach Rom gekommen und hat „Paulus“ gesucht und auch gefunden, oder haben wir von einem gemeinschaftlichen Handeln des „Hauses“ des Onesiphorus auszugehen? Mit Blick auf 1 Kor 16,15, wo davon die Rede ist, dass das „Haus“ des Stephanas sich in den Dienst für die Heiligen gestellt hat, ist Letzteres anzunehmen. Aber es stellt sich die Frage, wie eine ganze Hausgemeinschaft Haus und Hof allein lassen und sich auf die Reise nach Rom begeben kann. Was ist mit dem Haus und Hof und damit möglicherweise verbundenen Wirtschaftsbetrieb? Wer kümmert sich darum? Überhaupt stellt sich die Frage, warum eine ganze Hausgemeinschaft auf Reisen gegangen sein sollte. Das wäre nur bei einem Umzug der Hausgemeinschaft nach Rom nötig gewesen. Wenn es nur um die Sorge für Paulus ging, dann hätten ein oder zwei sorgende Personen gereicht, es sei denn, es bedurfte einer umfangreichen Logistik oder der Gewährleistung der Sicherheit angesichts von Gefahren.
Da wir von einer Gefangenschaft des Paulus auszugehen haben, hat Onesiphorus – vielleicht zusammen mit der gesamten Hausgemeinschaft – wohl nach dem genauen Ort gesucht, wo „Paulus“ gefangen gehalten wurde bzw. wird. Und die Suche ist von Erfolg gekrönt worden. Diese Information ergibt jedoch nur dann Sinn, wenn das Finden für „Paulus“ eine positive Konsequenz nach sich zog. Konnte nun „Paulus“ im Gefängnis besucht werden? Und konnte er „erquickt“ werden? Dies würde eine Art offene Haft voraussetzen, wie sie in Apg 28,30-31 geschildert wird. Gab es vielleicht sogar die Möglichkeit, für die Befreiung des „Paulus“ aus dem Gefängnis einzutreten? Auch wenn dies nicht auszuschließen ist, dürfte darauf nicht der Fokus liegen. Schließlich spielen die Gefangenschaft und das Leid für die christliche Existenz eine große Rolle und sind auch für die Aussagen 2 Tim 1,15-18 grundlegend. Die Befreiung aus der Haft und Beseitigung von Leid kommen nicht in den Blick, sondern nur die Erleichterung der Haft und die Minderung von „Leid“ durch „Erquickung“.
Diese Fürsorge wird unter dem Gesichtspunkt des Zeugnisses für Jesus Christus und dessen Herold, Apostel und Lehrer, „Paulus“, betrachtet. Das Zeugnis erfolgt bei diesem Beispiel nicht durch Worte, sondern durch Handeln. Außerdem hat es eine räumliche Dimension: Onesiphorus begibt sich – vielleicht mit der gesamten Hausgemeinschaft – von der Provinz Asien nach Rom zu „Paulus“ hin. Und all dies geschieht in einer Situation, in der sich Christen der Bedrängnis ausgesetzt sehen. Da von Furcht des Onesiphorus und seines „Hauses“ nicht die Rede ist, haben wir es mit einem Beispiel furchtlosen Zeugnisses zu tun.
Das Adverb „spoudaiôs“ kann „eifrig“ oder „eilends“ bedeuten. Onesiphorus bzw. das „Haus“ des Onesiphorus suchte „Paulus“ also „eifrig“ oder „eilends“. Eine Entscheidung zwischen beiden Bedeutungen ist nicht unbedingt nötig, weil beide zugleich möglich sind. Sowohl der Eifer als auch die Eile bei der Suche nach „Paulus“ können so verstanden werden, dass „Paulus“ ohne Scham bezeugt wird. „Paulus“ wird ohne Scham als Glaubensautorität anerkannt (vgl. 2 Tim 1,8).
Eine Textvariante bietet die Steigerungsform „spoudaioteron“ (oder: „spoudaioterôs“), die „eifriger“ und/oder „eilender“ bedeutet und hier sicherlich im Sinne von „sehr eifrig“ und/oder „sehr eilends“ zu verstehen ist.
Weiterführende Literatur: B. Gineste 1996, 87-106 vertritt die These, dass V. 17 nicht im Sinne von „Im Gegenteil: Als er nach Rom gekommen war, suchte er mich eifrig und fand mich auch“ zu verstehen sei, sondern im Sinne von „Im Gegenteil: mit Kraft/Mut/Entschlossenheit verlangte er nach mir und erhielt mich“. Folgende beiden Deutungen seien möglich: „Er versuchte mich zu sehen und ihm ist es gelungen“ oder „Er hat darauf bestanden mich zu sehen und war damit erfolgreich“. Der unmittelbare Fortgang des Textes lege letztere Deutung nahe. Die Übersetzung von V. 17 müsse „Bien plus, dans un élan de courage, il m’a réclamé avec empressement, et il m’a obtenu“ lauten und nicht „bien plus, dès son arrivée à Rome, il m’a cherché avec empressement et il m’a trouvé“. Es sei folglich nicht die Rede davon, dass Onesiphorus nach Rom gekommen war.
A. E. Wilhelm-Hooijbergh 1980, 435-438 befasst sich mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der griechischen und lateinischen Textversionen des V. 17 und der Frage, ob Onesiphorus bzw. das „Haus“ des Onesiphorus nach Rom gekommen war, oder ob Onesiphorus bzw. das „Haus“ des Onesiphorus in Rom gewesen war. Sie merkt an, dass Paulus gewöhnlich die Adressaten nicht informiere, von wo aus er schreibt. Er hätte auch „als Onesiphorus (bzw. das „Haus“ des Onesiphorus) hier war“ schreiben können. Zudem werde die Bewegungsrichtung zu einem Ort hin gewöhnlich mit der Präposition „eis“ ausgedrückt. Sie geht angesichts der untersuchten Textversionen davon aus, dass Onesiphorus bzw. das „Haus“ des Onesiphorus in Rom gewesen war und von dort aus nach Cäsarea kam, wo Paulus gefangen war, und ihn dort suchte und fand.
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Beobachtungen: Wörtlich ist der Beginn von V. 18 mit „Der Herr gebe ihm, dass er/es Barmherzigkeit findet beim Herrn an jenem Tage“ zu übersetzen. In gängigerem Deutsch lautet die Übersetzung „Der Herr möge ihn/es Barmherzigkeit finden lassen beim Herrn an jenem Tage“.
Ist „Barmherzigkeit erweisen“ gleichbedeutend mit „Barmherzigkeit finden lassen“? Dann würde der Beginn von V. 18 den Beginn von V. 16 wiederholen, mir dem einzigen Unterschied, dass der Fokus auf „jenen Tag“ gelegt wird. Es wird nicht gesagt, welcher Tag gemeint ist. „Paulus“ scheint davon auszugehen, dass die Leser und Hörer des Briefes mit der Formulierung etwas anfangen können. Es liegt nahe, sie auf den Tag der Wiederkunft Christi zu beziehen, wobei die Wiederkunft Christi in 1 Tim 6,14 als „Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus“ bezeichnet wird. Der Tag der Wiederkunft Christi ist vielleicht als Tag des Gerichts verstanden. Wenn dem so ist, dann ist „Der Herr möge es/ihn Barmherzigkeit finden lassen…“ wohl im Sinne von „Jesus Christus möge bewirken, dass dem Onesiphorus bzw. dem Haus des Onesiphorus am Tag des Gerichts Gnade zuteil wird“ zu verstehen. „Beim Herrn“ könnte so verstanden werden, dass der „Herr“, also Jesus Christus, der Richter ist. Dann würde aber Jesus Christus bewirken, dass er selbst etwas tut – eine sehr merkwürdige und komplizierte Konstruktion! Näher liegt, dass in V. 18 „Herr“ nicht beide Male Jesus Christus bezeichnet. Es fällt auf, dass in V. 18 zuerst von „dem Herrn“ (also mit bestimmtem Artikel) und danach vom „Herrn“ (also ohne bestimmten Artikel) die Rede ist. Möglicherweise ist „der Herr“ Jesus Christus (vgl. 1,2) und „Herr“ Gott. Haben wir dann also V. 18 so zu verstehen, dass Gott der Richter ist und Jesus Christus die Barmherzigkeit Gottes bewirken soll? Eine solche Deutung irritiert allerdings: Wäre bei der „Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus“ nicht zu erwarten, dass Jesus Christus Richter ist (vgl. 4,1.8) und Gott dessen Barmherzigkeit bewirken soll? Ist also Gott „der Herr“, der Barmherzigkeit bewirken soll, und der Richter Jesus Christus „Herr“ (gemäß 2 Tim 1,2 „unser Herr“)? Von 2 Tim 2,19 her gesehen scheint es nicht so zu sein (siehe dazu die Beobachtungen zu 2 Tim 2,19).
Mit den „Diensten“ sind sicherlich kirchliche Dienste gemeint. Aber wem hat Onesiphorus bzw. das Haus des Onesiphorus in Ephesus gedient? Dem „Paulus“, als er noch nicht gefangen war und noch in Ephesus wirkte? Oder der Gemeinde in Ephesus? Oder bestimmten Gemeindegliedern? Die Steigerungsform „beltion“ hilft uns bei der Beantwortung der Frage nicht. Übersetzen wir sie mit „besser“, dann ist ausgesagt, dass Timotheus“ besser über die „Dienste“ Bescheid weiß als „Paulus“. Sie können dann logischerweise nicht „Paulus“ gegolten haben. Es ist jedoch auch die Übersetzung „sehr gut“ oder „am besten“ möglich. Dann wissen wir nur, dass „Timotheus“ sehr gut über die „Dienste“ Bescheid weiß. Wie gut „Paulus“ über sie Bescheid weiß, bleibt offen. Nicht nur der bzw. die Nutznießer der „Dienste“ sind unklar, sondern es ist auch unklar, welche „Dienste“ Onesiphorus bzw. das Haus des Onesiphorus in Ephesus geleistet hat. Bei all den Unklarheiten lässt sich jedoch festhalten, dass Onesiphorus als vorbildlicher, dem Paulus loyaler Christ dargestellt wird. Dass er das kirchliche Amt des Diakons innehatte, ist möglich, kann aber allein aus dem Gebrauch des Verbs „Dienste leisten / dienen“ nicht erschlossen werden.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Gineste, Bernard; Genomenos en rhômê (2 Tim 1,17): Onésiphore a-t-il "été à Rome", RThom 96/1 (1996), 67-106
Löning, Karl; "Von ihnen bin ich der Erste" (1 Tim 1,15). Paulus als soteriologische Schlüsselfigur in den Pastoralbriefen, in: T. Schmeller [Hrsg.], Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen, Freiburg i. Br. 2008, 131-150
Luttenberger, Joram; Prophetenmantel oder Bücherfutteral. Die persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen im Licht antiker Epistolographie und literarischer Pseudepigraphie (ABG 40), Leipzig 2012
Stewart, Randall, A Coptic Fragment of 2 Timothy, StPapy 21/1 (1982), 7-10
Wilhelm-Hooijbergh, Ann E.; In 2 Tim 1:17 the Greek and Latin Texts may have a Different Meaning, Studia Biblica 1978:III, JSNT Suppl. Ser. 3 (1980), 435-438